25 Jahre nach seinem legendären Tour de France Sieg zeigt die fünfteilige Dokumentation „Being Jan Ullrich“ das Leben und den Werdegang Jan Ullrichs, sowie seinen tragischen Absturz nach der Karriere. Cleat-Chefredakteur Max Marquardt hat sich die Dokumentation gleich zweimal angesehen. Sein Fazit: „Being Jan Ullrich ist alles, nur nicht „hervorragend“. Ein Kommentar.

Jeder, der schon mal auf einem Rennrad gesessen hat weiß, dass Freud und Leid meistens sehr eng miteinander verbunden sind. Als 1997 Jan Ullrich als erster Deutscher überhaupt die Tour de France gewann, wurde die gesamte Republik Zeuge dieses Umstands. Dank der Live-Übertragung der ARD, damals unter anderem Sponsor des pfeilschnellen Rostockers, verfolgten Millionen von Menschen vor ihren Fernsehern Ulles Husarenritt in Andorra-Arcalis. „Auf großem Blatt“, wie der Kommentator damals euphorisch ins Mikro stieß, stürmte Ullrich in Richtung des Ziels, pulverisierte seine Kontrahenten und riss am Ende das Gelbe Trikot an sich. „Jan Ullrich: Ganz Deutschland jubelt ihm zu“ titelte die BILD. „Voilà le Patron“ schrieb das Tour-Organ L’Équipe im Freudentaumel.

In diesem heißen Sommer war ein neuer Radsportstar geboren. Deutschland hatte einen neuen Helden und die Zeitungen und Fernsehsender endlich wieder etwas für ihre Sport- und Boulevard-Teile. So viel zur Freude. Das Leid sollte später kommen, für Ulle, für die Fans, für den Radsport – und auch für die Medien, die fortan „ihren“ Jan zur Persona non Grata degradierten. Deutschland, und seine Helden – das war schon immer eine Lovestory von ganz besonderem Kaliber. Ulles Geschichte ist eine tragische, wie sie wohl nur der Sport hervorbringen kann. Der Ruhm des Helden, gefolgt vom tiefen Fall. Spannend wie ein Theaterstück – und das, obwohl die Geschichte über der sommersprossigen Rothaarigen mitnichten vorbei ist. Denn Jan Ullrich ist noch da, oder besser, er ist wieder da. Er ist genesen, es geht ihm gut. Er hat sich aufgerappelt, oder ist zumindest dabei. Umso überraschender strahlt die ARD anlässlich Ulles 25. Jubiläums seines Tour de France Sieges, eine fünfteilige Dokumentation über das Leben, den Triumph und den Fall des Radsporthelden aus. „Being Jan Ullrich“ soll dabei nicht nur eine Dokumentation sondern auch als ein Psychogramm angesehen werden, mit spannenden Protagonisten wie Ex-Erzrivale Lance Armstrong, Teamkollegen wie Uwe Bölts und Rolf Aldag, seinem ersten Trainer Peter Sager. Ex-Trainer, Ex-Teamkollegen, Freunde, Sponsoren, Betreuer, Pressesprecher, Biografen und Sportjournalisten sprechen über den Ausnahmesportler, versuchen einzuordnen, zu analysieren. Und selbst Ullrichs Freunde aus seiner Wahlheimat Merdingen erzählen, wie das damals so war, als „Der Kaiser“ im verschlafenen schwäbischen Weinbau-Kaff landete und dort erstmal so gut wie alles umkrempelte. Als Radsportfan verehrt man Jan Ullrich – gleichgültig seiner fragwürdigen Eskapaden. Er ist und bleibt ein ewiger Held, ein Mythos, ein Ausnahmetalent, dem man stets verzeiht, egal wie viel Mist er gebaut hat. Umso erfreulicher ist da der Umstand, dass es nun eine neue, fünfteilige Dokumentation über den großen deutschen Radprofi gibt. Die Vorfreude ist immens, das alkoholfreie Bier kaltgestellt, die Fernbedienung zugbereit. Doch bereits in den ersten Minuten der Dokumentation offenbart sich: Hier stimmt etwas nicht. Und zwar ganz gewaltig.

Schon der Cliffhanger vor der ersten Einblende von „Being Jan Ullrich“ wirkt wie der einer billigen RTL-Truecrime-Serie: Schnelle Schnitte, peinliche Musik, oldschoolige Abblenden und Zitate, die völlig aus dem Kontext gerissen sind. „I feared him“, lässt noch kurz Lance Armstrong verlauten, bevor das Zitat abrupt endet und der erste Teil der Sportschau-Doku beginnt. In den ersten beiden Folgen beschreiben sachkundige Zeitzeugen und Wegbegleiter, wie das „Jahrhunderttalent“ aus Rostocks Hochhaussiedlung Lütten Klein, über Radler-WGs in Hamburg und Berlin schließlich auf den Champs Elysée landet. Dabei bekommen die Zuschauer unfreiwillig peinliche Home-Videos und Schwarzweißfotos voll ironiefreier Schnauzbärte vor den Latz geknallt; Männer in zu großen Sakkos erzählen das wahre Märchen vom kleinen Jan, der – wie es sein Trainingskollege und Kumpel André Korff schildert – beim Stehversuch mit Rennrad, den andere nach einer halben Minute abbrechen, „die Stunde vollmacht“. Und auch, wenn man es nicht wahrhaben will und man als echter Ulle-Fan (und das ist der Verfasser dieser Zeilen!) über so nahezu jeden Fauxpas hinwegsehen kann, so fällt sofort die katastrophale Ausleuchtung der Interviews ins Auge. Alles wirkt wie im Set einer billigen 90er-Jahre Serie: Überall Weichzeichner. Man muss weder Journalismus noch Kameratechnik studiert haben, um zu erkennen, dass manche Sequenzen komplett überbelichtet sind. So sehr, dass weiße Flächen für die Augen gar nicht mehr wahrnehmbar sind. Erschwerend hinzu kommt eine katastrophale Schnittarbeit, die so dermaßen wirr und unsauber ist, dass selbst Laien auf diesem Gebiet den Eindruck bekommen könnten, es handle sich hier noch um eine Rohfassung. Manche Protagonisten in den Interviews kann man teilweise nicht zuordnen, da sie schlichtweg nicht vorgestellt werden. Sie reden einfach drauflos.

Schon in der ersten Folge „Bergauf“ versucht man sich an fragwürdigen Psychoanalysen in Bezug auf „Ulles“ späteren Alkoholismus. Die Winzerei der Schwiegereltern kommt ins Spiel. Hätte diese möglicherweise Jans Verhalten beeinflusst? Oder war es doch das eine Bier nach dem Rennen? „Meine Güte!“, möchte man schreien – doch schon folgen ein paar legendäre Videoaufnahmen der Tour de France, die das Gemüt besänftigen. Wären auch an dieser Stelle nicht schon wieder die miserablen Schnitte, die holprigen Übergänge und – am schlimmsten, die misslungene Audio-Nachbearbeitung alter Aufnahmen. Da hört man schon mal lautes Jubeln, entnommen aus einem, man mag es vermuten, Fußballspiel, dass schlichtweg über eine x-beliebige TdF-Szene gelegt wurde, um eine effekthascherische Pseudo-Dramatik zu schaffen. Dabei wäre dies in Anbetracht dieser Kult-Aufnahmen gar nicht nötig gewesen. Jeder Radsprotfan weiß: Sie stehen bereits für sich.

„Die Dokumentation wirkt wie ein schnell zusammengeschustertes Praktikantenstück, trotz starker Zitate und teils einzigartiger Aufnahmen.“

Leider bessert sich die amateurhafte Bild- und Schnittarbeit auch im späteren Verlauf dieser Dokumentation nicht. Dafür gibt es aber einen halbstündigen Lance Armstrong Werbeblog auf die Augen gedrückt. Fakt ist: Armstrong und Ullrich sind zweifellos beide polarisierende Gestalten – gefallene Helden, die sich wieder Stück für Stück ihren Platz in der Radsportszene, aber auch der Gesellschaft zurückkämpfen. Nur das Ersterer es etwas smarter anstellt. So verkommt Folge 3 „Lance“ zu einer unfreiwillig medienwirksamen PR-Veranstaltung über den geläuterten Armstrong, der seine Arme der Güte um Ullrich legt, ihn „wieder zurückholen“ will, in diese Welt, die ihn so schlecht behandelt habe. Natürlich ist bei all diesen Gesten der Güte stets die flinke Kamera von Liz Armstrong dabei – und, wenn man schon mal da ist, auch jede Menge Merchandise von „WEDU“ und Armstrongs Podcast „TheMove“ auf den Fotos zu sehen. Nach fast drei Jahrzehnten hat es zumindest Armstrong verstanden, wie die Medien funktionieren. Die beiden Filmemacher Ole Zeisler und Uli Fritz hingegen nicht. Und Jan Ullrich erst recht nicht, denn schon wieder werden auf den Schultern des „Kaisers“ PR-Maßnahmen durchgedrückt, von denen am Ende alle, nur nicht er profitieren. Man möchte heulen. Dass aber vor allem uralte Aufnahmen aus der „Ulle and Friends“-Ära als ein „wieder auf die Beine kommen“ verkauft werden, ist eine Farce von gänzlich neuer Qualität. Hätten sich die Regisseure dieser Medialentgleisung tatsächlich eingehender mit Jan Ullrich befasst, dann wüssten sie, dass sich Ullrich in dieser Zeit keineswegs aufgerappelt hatte. Kein Wort von den damaligen Alkoholeskapaden, von einem verwahrlosten Jan Ullrich, der wieder einmal aufs Neue von einem fadenscheinigen Veranstalter, der schließlich „nur gute Absichten hatte“, bis aufs Knochenmark geschröpft wurde. Dieses Kapitel wird in der Dokumentation komplett ignoriert. Weil es nicht ins Storyboard gepasst hat?

Am Ende des abrupt schließenden Fünfteilers bleibt man ratlos zurück. Vieles ist alt, fast nichts neu. Ob die Freundschaft von Armstrong und Ullrich tatsächlich echt oder nur ein smarter Zug des Texaners ist, sich selbst und sein Unternehmen zu promoten, ist Auslegungssache. Die Dokumentation wirkt wie ein schnell zusammengeschustertes Praktikantenstück, trotz starker Zitate und teilweise einzigartiger Aufnahmen. Das krampfhafte erzwungene Generieren eines Spannungsbogens macht „Being Jan Ullrich“ zu einer unglaublich peinlichen Doku-Soap, bei der man auf die Frage hin, wie schlecht man es denn umsetzen solle, nur mit Ja! antworten kann. Zeisler und Fritz haben hier die einmalige Chance vertan, eine wirklich aussagekräftige, emotionale und gleichzeitig atmosphärische Dokumentation zusammenzuschneiden, die als ein neues Zeitdokument für die meisten Radsportfans immer noch „größte Ära“ in die Geschichte hätte eingehen können. Stattdessen schwankt „Being Jan Ullrich“ zwischen Fremdschäm-PR, grausamer Post-Produktion und vielen zusammenhanglosen Szenen. Es fehlt ein Grundgerüst – tatsächlich eine journalistische Grundregel, die bereits im ersten Semester gelehrt wird. „Was ‚Being Jan Ullrich‘ außergewöhnlich macht, ist neben der hervorragenden Schnittarbeit die ausgesuchte der Qualität der interviewten Zeitzeugen und Weggefährten“, heißt es Seitens der Presse. Ein Satz, der dafür gesorgt hat, dass sich der Autor dieser Zeilen die gesamte Dokumentation ein zweites Mal angetan hat. Und selbst danach steht fest: „Being Jan Ullrich“ ist vieles, nur nicht hervorragend. Natürlich: es muss nicht gleich Avantgarde-Kino wie „Wonderful Loosers“ sein. Vielleicht hätten sich die beiden aber zur Einstimmung ein paar Filme dieser Machart in der Vorrecherche ansehen sollen – es hätte bestimmt nicht geschadet. Denn gerade die Kombination aus alten Filmaufnahmen, unfreiwillig komischen Sequenzen, wie zum Beispiel den Szenen in Merdingen oder in Ulles alter Heimat Rostock, sowie den Nachdrehs an ikonischen Orten, wären, wenn richtig aufbereitet, pures Gold und Balsam auf die Augen der Zuschauer gewesen. Eine Chance, die die Filmemacher großartig vertan haben.

„Being Jan Ullrich ist ein grandios gescheiterter Versuch, die Geschichte des wohl größten deutschen Radsportlers in eine dafür passende Form zu gießen“

Der größte Hohn ist allerdings, dass ausgerechnet jene öffentlich-rechtlichen Sender die Dokumentation ausstrahlen, die bei der medialen Ächtung Jan Ullrichs in den 2000ern ganz vorne dabei waren. An dieser Stelle wäre eine Aufarbeitung der Geschehnisse ebenso richtig und wichtig. Dies wird auch in den teilweise eingespielten alten Aufnahmen der Pressebelagerung vor Ulles Hotel oder in seiner Wahlheimat Merdingen sichtbar. Das Gebaren der Journalisten zählt mi Sicherheit nicht zu den Sternstunden dieser Profession. Aber: Keine Reue, keine Selbstreflexion. Stattdessen wird in rechthaberischer Manier erneut der Knüppel aus der Tasche gezogen und dem geschaffenen, gestürzten und dann wieder aufgerappelten Helden auf die Brust gelegt. Da nutzt es auch nicht, wenn in den letzten Minuten resümierend das Statement kommt, dass Jan Ullrich stets ein „außergewöhnliches Talent“ bleiben wird, ein „Ausnahmesportler“ und dass ihm seine Fans und Freunde „längst verziehen haben“. Also: Qui bono? „Being Jan Ullrich“ ist ein grandios gescheiterter Versuch, die Geschichte des wohl größten deutschen Radsportlers in eine dafür passende Form zu gießen. Die Dokumentation biedert sich dem Zuschauer als ein Spagat zwischen Bewunderung, Sympathie und Mitleid an. Und der Hobby-Psychologen-Erkenntnis, dass Jeder für sein Handeln selbst verantwortlich ist. Vor allem natürlich Jan Ullrich, der in der Dokumentation selbst kein einziges Mal zu Wort kommt.