Es gibt Dinge im Leben, da kommuniziert die Großhirnrinde an den Rest des Körpers, es einfach bleiben zu lassen. Dazu gehören aus dem Flieger springen, free-solo irgendwo hochzuklettern oder Radrennen zu fahren, bei denen man im Vorfeld weiß, dass man die körperlichen Grenzen sprengt. Aber weil Vernunft noch nie sonderlich sexy war und Heldengeschichten nicht auf der Couch geschrieben werden, meldete sich Cleat-Chefredakteur Max Marquardt spontan für Chasing Cancellara Bern-Andermatt ein. Ein Reisebericht über ein Jedermann-Rennen der besonderen Art.

Vorweg: Ich zähle mit Sicherheit nicht zu der Sorte Rennradfahrer, der für eine Tour mitten in der Nacht aufsteht, Porridge isst (für mich ist das immer noch Haferschleim!) oder sich mit irgendwelchen beknackten Grundlagenausdauer-Trainingsplänen geißelt. Ja, ich bin Sportler. Hobby-Sportler um genau zu sein. Und genau deshalb genieße ich gewisse Privilegien, die Profi-Rennfahrer nicht haben. Vor ein paar Jahren habe ich Fabian Cancellara in einem Interview gefragt, ob er sich als aktiver Fahrer viel verkneifen musste. Die Antwort war ein überraschendes Nein. Er habe gegessen und getrunken, worauf er Lust hatte. So halte ich das auch. Eigentlich. Aber weil ich vor Chasing-Cancellara Bern-Andermatt irgendwie kalte Füße bekam, ließ ich für ein paar Monate erstmal den Alkohol weg und trainierte die Corona-Pfunde runter. Vor allem die Sache mit den Drinks (ich bin ja Journalist) war nicht easy. Aber was tut man nicht alles für die Aussicht auf einen Podiumsplatz.

Das Konzept

Chasing Cancellara ist inzwischen nicht mehr nur eine Rennserie, sondern zu so etwas wie einer Plattform für Radsportbegeisterte geworden. Vom Anfänger bis zum Halbprofi können sich die Teilnehmer in verschiedenen Rennformaten mit dem zweifachen Olympiasieger Fabian Cancellara messen. Die meisten der Veranstaltungen finden in der Schweiz statt, mittlerweile aber auch in Flandern und Italien. Ein Alleinstellungsmerkmal der Rennen ist vor allem die familiäre Atmosphäre, sowie die formidable professionelle Organisation. Aufgrund der Corona-Situation gab es bei Bern-Andermatt keinen Massenstart. Außerdem war für die Einzelstarter das Windschattenfahren verboten. Die Teamfahrer hatten es da ein wenig leichter. Sie durften sich in Zweierteams gegenseitig unterstützen. Weil ich mir für dieses Debut aber die volle Dröhnung geben wollte, ging ich als Solist an den Start. Smart geht anders, macht aber auch nur halb so viel Spass.

Tag 1: Ankunft

Ich möchte die Leser dieser Zeilen nicht damit langweilen, in dem ich darüber schreibe, wie „hart“ ich für dieses Event trainiert habe. Auch möchte ich keine Tipps geben, was man am besten im Vorfeld tun sollte, um die 200 Kilometer und über 4500 Höhenmeter an einem Tag zu meistern. Das überlasse ich den Instagram-Helden und Bikefluencerinnen. Einen beherzten Rat habe ich jedoch: Wer damit liebäugelt, etwas wie Bern-Andermatt zu bestreiten, sollte den Monat davor nicht unbedingt an anderen, ähnlichen Monstern teilnehmen. In meinem Fall war es unter anderem der Sportful Dolomiti Gran Fondo. Die kurze Regenerationszeit ist ein Faktor, den man einfach nicht unterschätzen sollte.

So kam ich am ersten Tag mit schweren Beinen und in mittelmäßig guter Grundverfassung in Bern an, um mich am dortigen Fußballstadion zu registrieren. Meine Startzeit sollte um 03.51 Uhr sein, somit blieb mir nicht viel Zeit um ausreichend Schlaf abzubekommen. Ich stellte das Rad ein, montierte den Chip für die Zeiterfassung und drehte noch ein paar Runden zur Funktionsüberprüfung. Nach dem obligatorischen „Carboloading“ lag ich um kurz nach 20.00 Uhr im Bett. Schon mal versucht zu dieser Zeit schlafen zu gehen? Funktioniert prima – nicht!

Tag 2: Race Day

Trotz einer kurzen Nacht mit wenig Schlaf, stand ich wenige Stunden später in bester Laune und kein bisschen nervös im Startblock des Berner Fußballstadions, wo mir Fabian schnell half, in die Warnweste zu schlüpfen. „Ist im Endeffekt wie eine Windweste“, sagte er und klopfte dabei auf meine Schulter. Naja, Windweste ist in der Tat etwas übertrieben, das Ding ist aerodynamisch wie ein Sonnensegel. Aber für die Sicherheit auf den ersten 100 Kilometern obligatorisch. Schließlich fährt man auf der ersten Etappe komplett im Dunkeln.

Pünktlich um 03:51 Uhr ging es los. Und wie! Die drei anderen Starter in meinem Block signalisierten sehr schnell, dass Eierschaukeln nicht auf dem heutigen Programmpunkt stand. Sie knallten in einem Affenzahn durch die Nacht. Schlaftrunken realisierte ich das nicht sofort und hängte mich mit hohem Puls auf den ersten 50 Kilometern an ihre Hinterräder. Natürlich auf Abstand, um nicht eine Zeitstrafe durch die auf den Begleitfahrzeugen sitzenden Marshalls zu kassieren. Mit einem Schnitt von 37 km/h bretterte ich durch die Nacht. Meistens allein. Denn ich musste irgendwie meine HR unten zu halten. Weil ich aber immer wieder von anderen Startern überholt wurde, ließ ich mich dazu hinreißen, weit über meinen Schwellenwerten zu fahren. Und genau das würde ich schon sehr bald bitter bereuen.

Kurz vor Schwanden begrüßten mich die ersten Sonnenstrahlen des Tages. Nach einer verdammt steilen Rampe und einer rasanten Abfahrt zum Thunersee stiefelte ich so schnell es ging in Richtung Innertkirchen. Dort, am Fuße des Grimselpasses, sollte das eigentliche Rennen für die Teilnehmer beginnen. An der Labe füllte ich meine Trinkflaschen auf und schmierte mir reichliche Sonnencreme ins Gesicht. Eine tolle Sache, die hier unbedingt Erwähnung finden sollte: Die Helfer an den Iso-Tanks und bei den Snacks setzten sich unter anderem auch aus Menschen mit Handicap zusammen. Mit vollem Einsatz und guter Laune betreuten sie die Teilnehmer und freuten sich mit ihnen über diesen schönen Tag. Chasing Cancellara zeigt hier auf vorbildliche und beeindruckende Art, wie gelebte Inklusion funktioniert. Das ist nicht nur ein Unikum, sondern zeitgemäß und inspirierend. Chapeau! Ich fände es schön, wenn andere Veranstaltungen sich in Zukunft hieran ein Vorbild nehmen würden.

Der Aufstieg zum Grimselpass sollte die erste größere Herausforderung des Tages werden. Weil ich allerdings schon in der Nacht weit über meinem Leistungsspektrum gefahren war, schwante mir für die bevorstehenden Pässe nichts Gutes. Das große Problem bei der Nordrampe des Grimselpasses ist seine Länge. 26 Kilometer und 1450 Höhenmeter gilt es hier zu meistern. Im normalen Tempo ist das machbar, bei einem Wettkampf pfeift man aus jeder Körperöffnung. Bis zum weiten Stausee konnte ich mich aber ganz gut auf dem Bike halten. Kurz darauf überholte mich Fabian auf seinem BMC und wir quatschen ein bisschen über die schöne Schweiz und welches Glück wir an diesem Tag mit dem Wetter hatten. „Am Nufenenpass hast du es dann eh geschaft, danach ist´s super easy“, rief mir Fabian noch im Vorbeifahren zu wünschte mir nochmal „Gute Beine und viel Spass“. Natürlich wollte ich mir es nicht anmerken lassen, aber ich war zu diesem Zeitpunkt eigentlich schon ziemlich paniert. An „Spass“ war nicht mehr zu denken. „Wie lange ist dieser verfluchte Anstieg denn noch“, murmelte ich immer wieder zu mir selbst, bis ich endlich das erste Etappenziel, den Parkplatz am Totensee erreichte. Dort angekommen, kippte ich an der Verpflegungsstation apathisch zwei Dosen Redbull und bediente mich an an den Snacks. Hier ein Kritikpunkt: Wenn man den ganzen Tag nur Süßkram in sich reinschaufelt (Gels, Riegel, Iso etc), dann wäre es eine willkommene Abwechslung, wenn es irgendetwas salziges an den Laben gäbe. Die Schweizer Küchli waren zwar eine nette Idee, aber wenn es gar keine andere Alternative gibt, außer ein paar abgepackte Salzstangen, so ist das schon ein bisschen dürftig. Auch dieser seltsame Wurst-Ersatz aus eingefärbten Gelantineblöcken war einfach nur widerlich. Wer den Fehler gemacht hat, sich diese einzuverleiben, sollte den Geschmack für das restliche Rennen nicht mehr losbekommen. Natürlich erwarte ich an einer Labe kein 5-Gänge-Menü, aber zumindest etwas „frisches“ (nein, keine Bananen) oder etwas, dass einen Kontrast zur Süße hat.

Nach der Zeitnahme am Grimselpass ging es erneut im Eiltempo nach unten. Auf dem kurzen Stück bis zum Nufenenpass konnte ich ein bisschen die Beine ausschütteln. Dann ging es wieder gnadenlos und in inzwischen sengender Hitze bergauf.

Am Anstieg zum Nufenenpass ahnte ich es schon: Das Rennen war hier für mich gelaufen. Im Schneckentempo kroch ich Spitzkehre für Spitzkehre nach oben. Zu diesem Zeitpunkt war ich bereits so grau, dass ich meinen Puls kaum noch nach oben bekam. In Rentner-Geschwindigkeit mühte ich mich über den Asphalt. Hier hätte ich ihn wirklich gebraucht, den Windschatten, oder das Fahren in einem Gruppetto. Denn wenn man allein ist, dann verstärkt sich das Leiden. Es ist gnadenlos. Nur du, dein knarzendes Rad und das Brennen der Muskeln. Keine Ablenkung. An einer kleinen Einbuchtung, nur wenige Meter vor der nächsten Zeitnahme, hielt ich kurz an und stieg vom Rad. Fuck it! Wenig später lag mein Frühstück auf der Straße und einer der First-Responder hielt mit seinem Motorrad neben mir an, um sich nach meiner Verfassung zu erkundigen. Ich war durch. Am Sack. Kaputt gespielt. Aber der Besenwagen? Niemals! Mit doofen Sprüchen und alten Bundeswehr-Weisheiten drückte ich mir ein weiteres Gel in den Hals und fuhr bis zur Labe, wo es erstmal nur Wasser und Salzstangen für mich gab.

Mit der Rückkehr der Lebensgeister fuhr ich ab in Richtung der letzten großen Herausforderung: den Gotthard-Pass. Hier sollte es über die kopfsteingepflasterte Südflanke, der sogenannte Tremola, ans Ziel nach Andermatt gehen.

Niemand, wirklich niemand kann mir allen Ernstes erzählen, dass er Kopfsteinpflaster geil findet. Der Grip ist miserabel, man wird durchgeschüttelt wie auf einer Rüttelplatte und für das Material ist es ebenfalls Gift. Und wer in Gottes Namen kommt auf die Idee, eine ganze Passstraße damit anzulegen? Vielleicht lag es an meiner schlechten Grundverfassung, oder dem Zwischenfall auf dem Nufenenpass. Aber auf der Tremola hätte ich am liebsten das Rad in die Böschung geschmissen. Jeder einzelne Stein fühlte sich an wie ein Schlag auf den Rücken. Die Finisher-Zeit war mir zu diesem Zeitpunkt schon völlig egal. Für mich zählte nur noch das Ankommen in Andermatt. Egal wie, egal wann. Um meiner schlechten Verfassung ein bisschen Paroli zu bieten, versuchte ich so oft wie nur möglich in den seitlichen Entwässerungsrinnen der Passstraße zu fahren. Dadurch war man auch ein bisschen schneller als die anderen Leidensgenossen. Denen ging es Größtenteils nicht anders als mir. Zumindest verrieten das ihre Gesichter.

Ich weiß nicht wie, aber wenige Meter vor der finalen Zeitnahme überkam mich nochmal so etwas wie eine neue Kraft. Durch sie schaffte ich es noch ein paar meiner Konkurrenten zu überholen und mit halbwegs gutem Schnitt bis Andermatt zu zuckeln. Nach über zehn Stunden fuhr ich dort durch den Zielbogen, wo auch schon Fabian und sein Team standen und die Teilnehmer begrüßten. Das Finisher-Bier kippte ich in einem Zug. Nach einem ganzen Tag widerlich süßer Gels, Riegel und Isodrinks, war das jetzt genau das Richtige. Welch Erleichterung. Der Blick auf RaceResult zeigte an, dass ich als 86er ins Ziel gekommen war. Passt schon. Hätte ich mich nicht am Anfang des Rennens übernommen und wäre ich nicht kurz vor Innertkirchen ein Mal falsch abgebogen, so wäre vielleicht auch eine bessere Zeit drin gewesen. Beim nächsten Mal vielleicht. Stolz schob ich mein Rad zur Seite und begab mich in die Duschen des dortigen Hotels Radison Blue. Hier gab es auch eine leckere Pasta-Party. Das Dessert ließ ich allerdings stehen. Dem Magen zuliebe.

Fazit:

Chasing Cancellara hat es in den letzten Jahren geschafft, aus einer kleinen Idee eine ernstzunehmende Großveranstaltung zu machen, die aufgrund der vorbildlichen Organisation und Durchführung seines Gleichen sucht. Besonders positiv zu erwähnen sind dabei Streckenführung, Atmosphäre, Grundstimmung und der Fakt, dass die Organisatoren zeigen, wie Inklusion richtig funktioniert. Fabian Cancellara gibt sich dabei als nahbarer Weltklassesportler ohne jegliche Starallüren, der sich sowohl für Teilnehmer als auch für die Fans (und davon gab es einige) geduldig Zeit nimmt. Auch dann noch, wenn das gefühlt hundertste Selfie von ihm eingefordert wird. Aufgrund der Tatsache, dass die Rennen nicht so überlaufen, aber dennoch ziemlich anspruchsvoll sind, unterstreicht das Alleinstellungsmerkmal dieser empfehlenswerten Veranstaltungsreihe. Ich zumindest werde auch im nächsten Jahr wieder an den Start gehen, dann aber vielleicht ein bisschen besser vorbereitet. Denn Fabian hatte Recht: Die Tremola ist in der Tat ganz „easy“. Ich bin sie am nächsten Tag nochmal gefahren. Problemlos, aber auch nicht mit 170 Kilometern in den Beinen.