Jahrelang schoss der Berliner Radkurier Henrik Kürschner durch die Hauptstadt-Metropole, lieferte Briefe und Pakete von A nach B und schlängelte sich so schnell es ging durch verstopfte Straßen voller hupender Autos. In der Freizeit ging es auf Radrennen, Brevets und Gruppenausfahrten, teilweise auf mörderisch lange Radreisen. Das Rad: Bewegungsmittel, Freizeitgefährt, Arbeitsmittel, – Lebensinhalt und -Mittelpunkt. Doch eines Tages sollte sich alles ändern. In seiner Kolumne „Aufgerappelt!“ erzählt uns „Henne“ seine ganz eigene, ungeschönte (Rad-) Geschichte.
Text: Henrik „Henne“ Kürschner
So, da bin ich nun einfach mal eben komplett ausgebremst vom Leben. Klar, ich bin noch unter den Lebenden, aber so recht weiss ich nicht, wo das alles hingehen soll. Ich bin arbeitslos, nicht versichert und meine Krankengeschichte liest sich wie die von einem 90 Jährigen. Als Radkurier stellt man sich eine rosigere Zukunft vor.
„Aber was soll´s“, denke ich mir. Ich habe einen merkwürdigen Überlebenswillen. Und genau der hat mich schon aus so einigen miesen Situationen gerettet. Deshalb: Weiter machen! Vor allem mit dem Radfahren will ich nicht aufhören. Mein Kardiologe hat mir im Krankenhaus schließlich mehr oder weniger das Go! dafür gegeben. „Sport ist nie schlecht“, hat er gesagt. Ein halbes Jahr zieht ins Land. Langsam erhole ich mich und ich sehe meine Freunde wieder. Wir fahren gemeinsam Rad. Nicht so wie früher, leider, aber immerhin noch gute 120 Kilometer am Tag.
Aber das ist auch die Obergrenze. Denn was es für solche Strecken braucht, ist Ausdauer. Und die habe ich gerade nicht. Ich bin ziemlich schlapp. Irgendwie kann ich noch, aber ich stelle immer mehr fest, dass irgendwas nicht in Ordnung ist. Obwohl mir das bewusst ist, ignoriere ich so ziemlich alles. Ich esse auch weiter, als würde ich pro Tag 170 Kilometer radeln. Tue ich aber natürlich nicht, stattdessen hänge ich die meiste Zeit im Bett rum. Dank Lockdowns und Rumgammeln habe ich jetzt 20 Kilo zu viel auf den Rippen. Zwanzig! Die bleiben auch erstmal. Das muss ein Ende haben! Drei Jahre mit nur wenig Sport und ner Menge Krankenhausaufenthalten haben ihre Spuren hinterlassen. Aber ich will zurück! Zurück zu vorher! Da, wo ich bei 196 cm Körpergröße auch nur 85 Kilo auf die Waage gebracht habe. Ich will!
Mein bester Freund Bastian kommt zu Besuch nach Berlin. Wir fahren gemeinsam Rad, was wahnsinnig gut tut. Zwei Jungs, die nur Blödsinn quatschen und gleichzeitig über viel zu teures Fahrradequipment diskutieren. Wir radeln durch die Stadt, die ich so liebe – und das jeden Tag. Wenn ich nicht kann, dann radelt er ohne mich. Ich vermisse unsere gemeinsame Zeiten. Leider wohnt Bastian inzwischen in Bottrop und das sind locker 500 Kilometer von mir entfernt. Also nichts, was man mal locker an nem Nachmittag abreissen kann. Er ist mit Laura gekommen, seiner damaligen Freundin und Fotografin und wir haben einen Riesen-Spass. Der Doc hat mir diverse Pillen verschrieben, die ich nehmen soll. Und ich? Genau: Ich ignoriere die einfach und lulle mich weiter in meine Alles-wird-gut Gedanken ein. Meine innere Stimme sagt mir das ebenfalls. Ich verliere mich in Tagträumereien, von einem Lottogewinn und nem Haus auf Malle!
An einem ziemlich schwülen Sommertag radeln Bastian und ich raus zum Flughafen (hört sich nicht doll an von Neukölln nach Adlershof, aber immerhin hat man da schon so schlaff 55 Kilometer in den Beinen). Die Temperaturen sind drückend und ich kann irgendwie nur schwierig atmen, aber wird schon (denke ich wie immer, das wird schon wieder). Wir fahren und freuen uns ob des guten Wetters und das doch alles in Butter ist. Ich schwitze wie ein Schwein. So sehr, dass mir die Suppe sogar das Schienbein runter die Latschen fließt. Wie gesagt, die Strecke ist nicht sonderlich anspruchsvoll. 55 Kilometer geradeaus, mehr flach als steil. Und ich sehe aus, als hätte ich gerade Marcus Burghardt zum Sprintduell herausgefordert (und gewonnen). Ich atme schwer und bin kurz vor dem Kollaps.
Wir kommen langsam wieder in Berlin an. Der Rückweg läuft und ich fühle mich besser, wohlwissend, dass ich gleich zuhause bin. Wir fahren an der Ostkrone vorbei. Das Wasser erinnert mich irgendwie an meine lange Tour nach Barcelona, als ich mit drei meiner Freunde auf dem Rad dorthin bin. Dann radeln wir noch ein wenig weiter, den Mauerradweg entlang, bis hoch an die Kiefholzstraße. Und dort passiert es: Ich kann eben noch sagen: “Warte mal kurz, Basti” und dann wird es Schwarz um mich herum. Ich kann mich nicht mehr aus den Pedalen ausklicken und falle um, wie ein Sack Kartoffeln. Bastian holt sofort den Notarzt, während ich auf der Straße liege und gar nichts mehr checke. Dann liege ich plötzlich in einem Auto und jemand versucht, mein verdammtes Brustbein zu brechen. Ich will schlafen, bin saumüde. Aber man lässt mich nicht. Plötzlich zuckt irgendwas durch mich durch und ich bin wieder Herr meiner Sinne. Denke ich zumindest. Ich will etwas sagen. Ich Kopf klappt das gut, doch aus meinem Mund kommt nur völliger Schwachsinn: „EUTFVANOERGNOEIR FNVERIGNVERGPIUEV EQRPGNEPQM DVMP DSWEFJ!“ In etwa so. Ich kann nicht mehr sprechen, ich weiss auch gerade nicht, was ich überhaupt noch kann. Ich wollte doch nur radeln, eine gute Zeit haben, mit nem guten Freund. Und jetzt sitze ich in diesem scheiß Krankenwangen – schon wieder. Alles was ich will ist, nur wieder heile zu sein und kein schlaffer Sack, der vom Fahrrad kippt.
Im Krankenhaus gibt man mir mit Nachdruck zu verstehen, dass die Pillen, die ich vom Arzt bekommen habe, schon ihren Sinn haben. Und ich die Dinger verdammt nochmal nehmen soll. Vom Leben selbst fühle ich mich im Stich gelassen. Ich meine, was soll der ganze Scheiß? Ich habe nie geraucht, nie getrunken, nie irgendwelche Drogen genommen. Das kotzt mich unglaublich an. Ich heule drei Tage einfach so den ganzen Tag, denn ich weiss nicht, wie es weitergehen soll. Ich dachte, ich hätte alles hinter mir. Pustekuchen!
Ich nehme fortan die Pillen und tatsächlich wird es langsam besser. Die Dinger machen ne Menge mit mir, vor allem mit meinem Magen-Darm-Trakt. Ich weiß jetzt auch, was ein „Schurz“ ist – darauf hätte ich echt verzichten können, Danke! Und ganz ehrlich: Ich habe eine unglaubliche Angst. Eine riesige scheiß Angst.
Ich werde erneut operiert. Diagnose Herzinfarkt. Die ganze Sache wirft mich wieder zurück – ein halbes Jahr. Dann komme ich nach Hause. Alles fängt von vorne an: Zuerst der Schlaganfall, dann der Herzinfarkt. Was soll denn jetzt noch kommen?
Nach einem Dreivierteljahr bin auch wieder halbwegs au dem Damm und fahre sogar wieder Rad. Ich habe die Schnapsidee, zu meiner Freundin nach Leipzig zu düsen. Die Strecke ist nicht so lang von Berlin aus. Ich fahre ruhig und gelassen, bis ich beim McDonalds in Wittenberg merke, dass ich zu spät ankommen werde. Ich bin unfit. Die Hügel entpuppen sich als Berge. Es wird mit jeder Pedal-Umdrehung schwieriger, Luft zu holen. Es scheint einfach keine Luft in den Lungen anzukommen. Das nervt mich. Das nervt mich sogar so sehr, dass ich die letzten 9 Kilometer mit der Bahn fahre. Ich kann einfach nicht mehr. Für Berlin-Leipzig brache ich an diesem Tag 9 Stunden. Ich kotze mental im Strahl.
Ich checke ein, in meiner neuen Lieblingsklinik, der Uniklinik in Leipzig. Dort gibt es einen Arzt, der mich versteht, einer der auch Rad fährt und mir sagt, das wir uns morgen wieder sehen. Es müssen neue Stances gelegt werden. (so ne Art Rohrstabilitäts-Verbesserungsteil, das sie in deine Arterien legen damit schneller und besser Blut durchkommt, glaub ich).
Ich verstehe nur die Hälfte von dem, was er sagt. Aber ich muss tatsächlich nochmal operiert werden. Nur ein paar Stunden später liege ich erneut unter dem Messer. Die Genesung danach läuft gut. Besser als gedacht. Auch bekomme ich langsam wieder ein Gefühl in meiner rechten Hand und in meinem Bein. Ich bin immer noch weit davon entfernt, zurück zu meiner alten Form zu kommen, aber immerhin kann ich jetzt alleine bist zu Apotheke gehen, ohne das ich dabei ohnmächtig werde. Schlapp fühle ich mich immer noch. Die Monate ziehen ins Land, ich fange wieder an wie ein echter Mensch zu sprechen. Ich murmele nicht mehr. Naja, so gut wie nicht mehr. Nach drei Jahren Wahnsinn, rappel ich mich langsam wieder auf. Es geht weiter, ich bin am Leben! Und die Pillen nehme ich jetzt auch ganz brav. Auch Fahrradfahren will ich wieder. Und zwar viel. Irgendwann.