Die Erstaustragung des RadRace 120 in Sonthofen ist Geschichte! Über 2100 Teilnehmer konnte das dreitägige Rennrad-Festival in dem verschlafenen Nest im Allgäu verbuchen. Cleat-Chefredakteur Max Marquardt war beim Debut dabei.

Dass sich die Hamburger RadRace einen respektablen Namen in der Radszene erarbeitet haben, sollte inzwischen auch bis in die hintersten Teile der Republik bekannt sein. Besonders die Last Man Standing Fixed Gear Championships (die älteren Leser erinnern sich) und die Tour de Friends sind extravagante Veranstaltungen, deren Fotos und Videos gefühlt jeden Tag durch die Social-Media Kanäle wabern. Mit dem RadRace 120 hat man nun zusammen mit 808Project ein Jedermannrennen aus der Taufe gehoben, dass es in einer solchen Form wohl noch nicht gegeben hat. Nicht etwa, weil das Rennformat mit seinen 126 Kilometern und insgesamt über 2200 Höhenmeter etwas Besonderes ist, sondern wie es beide Veranstalter geschafft haben, gehörig mit einem feuchten Lappen über das nach wie vor eingestaubte Image von Jedermannrennen zu wischen und diese in einem gänzlich frischen Glanz zu präsentieren.

(Anmerkung: Auch wenn es im Journalismus unüblich ist, haben wir den Artikel in der subjektiven Ich-Form verfasst, da er rein auf den subjektiven Erfahrungen des Autors basiert.)

Fotos: Daniel Wittewattendorf, Max Marquardt

Tag 1: „Wir sin´hier alle voll im Schdress, he“

Auf Einladung von Gorewear packte ich am Freitag in aller Hergottsfrühe meine Sachen zusammen und fuhr mit dem Zug von München nach Immenstadt. Dort angekommen erwarteten mich bereits ein paar weitere Pressevertreter, unter anderem vom Rennrad-Magazin und der Bike-Bild. Da unser Hotel nicht in Sonthofen lag, dem eigentlichen Ort des Geschehens, mussten wir erst noch die knapp zehn Kilometer dorthin mit dem Rad zurücklegen. Weniger zur Begeisterung der Allgäuer-Verkehrsteilnehmer, die ihr Nervenkostüm ob der großen Radsport-Veranstaltung in ihrer Heimat bereits jetzt zu Hause gelassen hatten. Denn auf der kurzen Distanz wurden wir geschnitten, beschimpft und mit einem „Verpisst euch!“ von der Straße gedrängt. Eigentlich kennt man sowas ja nur aus Großstädten, weshalb die Überraschung hierüber in unser aller Gesichter geschrieben war.

Das Festival-Gelände in Sonthofen lag in einem kleinen Stadtpark und bot den Besuchern eine Bike-Expo, Fressbuden, Bierständen, Service-Zelte für alle, die nochmal so richtig schön ihre Schaltung verstellt hatten und eine große Bühne inklusive überdimensionalem Flatscreen für die Siegerehrungen. Zwei gemütliche Biergärten und ein Campingplatz mit wirklich ausreichend vielen Dixie-Toiletten rundeten das Gesamtbild ab – und ließen bereits dadurch erkennen, dass man sich ein ganzheitliches Festival-Konzept erarbeitetet hatte, das auf jeder Menge Erfahrung basiert. Einzig die nahezu fehlende Beschilderung zur Halle für die Registrierung sei kritisch anzumerken. Radschuhe sind nämlich keine Laufschuhe. Nachdem ich mir meine Startnummern abgeholt hatte, gab es beim Gorewear-Stand noch eine Pressekonferenz zur neuen Distance Trägerhose, die wir beim anschließenden Press-Ride auch gleich testen durften. Ein geiles Teil. Wer mehr über die Bibs von Gorewear erfahren will: Hier geht´s zum Interview!

Mittags hatte es bereits einen Warm-Up-Ride für alle Teilnehmer gegeben, der von Guides vom RadPack angeführt wurde. Hier hatte man die Möglichkeit, sich bei wenigen Höhenmetern die Beine für die bevorstehenden zwei Tage locker zu machen.

Nach einer anderthalbstündigen Ausfahrt schlenderte ich über das Gelände und ließ es mir noch bei ein paar Bieren beim Bici Bavarese / Stelbel Stand gutgehen. Auffällig und deshalb erwähnenswert war das ungewöhnlich hohe Aufkommen von extrem stylischen (und teuren) Rädern, sowie einem Publikum, dass direkt vom Pas Normal Fotoshooting zu kommen schien. Man kann von dieser und anderen Marken in dieser Kategorie ja halten, was man will. Doch einen derart hohen Coolness-Faktor habe ich in meinen fast 15 Jahren Hobby-Radsportler bei noch keinem Publikum gesehen. Das Konzept der Veranstalter, sich dem staubigen Rennrad-Muff von einst zu entledigen, in Sonthofen schien es geglückt zu sein. So erblickte ich an allen drei Tagen weder flatternde Lycra-Trikots mit Sparkassen-Aufdruck, noch diese unsäglichen Pantani-Gedächtnis-Bandanas. Danke!

Da das Wetter unangenehm kühl wurde, entschied ich den Rückweg mit dem Taxi anzutreten. Hier wurde ich von einem sichtlich genervten Mid-Fünfziger Taxifahrer harsch schwäbelnd angemosert, weil ich nicht schnell genug die Laufräder aus meinem Rad fummelte. „Wir sin´hier alle voll im Schdress, he“, schnauzte er mich an, um mir zu Verstehen zu geben, dass sich ganz Sonthofen im Ausnahmezustand befände. Ein Umstand, der mir auch wenig später im Restaurant beim Abendessen verbal entgegengeschmettert wurde, als man uns den Nachtisch unseren Carboloading-Fressis schlichtweg verweigerte. „Kaiserschmarrn? Da musch I ja jetztad 20 Eier in dr Pfanne haue! Nee, esst doch stattdesse an Kuacha“, lautete die flapsige Verweigerung des scheinbar ebenso maximal gestressten Kochs.

Tag 2: Pasta und Prozente

Der Samstag stand gänzlich im Zeichen der Bergfahrer. Denn die Veranstalter hatten sich für den Prolog des RadRace 120 eine ganz besondere Gemeinheit ausgedacht: Ein Bergzeitfahren. Alle Teams hatten hier die Möglichkeit, auf einer Strecke von 4,3 Kilometern und knapp 400 Höhenmetern ihre Startplatzierung für den Renntag zu verbessern. Hierfür hatte man extra eine maximal verschärfte Startrampe gezimmert. Im Start und Zielbereich wurde RadRace-typisch richtig Stimmung gemacht – mit Bengalos und Motivations-Mucke. Beides brauchte es auch, denn die 14 Prozent-Rampen hatten es für die Athleten in sich. Mit Vollgas und schmerzverzerrten Grimassen ging es steil nach oben. Und es gab einige, die bereits auf halber Strecke wieder mit gesengtem Haupt umkehren mussten. Zu steil, zu krass – definitiv nichts für weiche Waden.


Auf dem Festivalgelände gab es den gesamten Tag über eine Pasta-Party und die Möglichkeit, sich vor dem großen Rennen auf der Bike-Expo mit allerlei Kram zu versorgen. Weil das Wetter endlich mal richtig gut war, badeten die meisten Gäste in der Sonne, tranken etwas in den Biergärten und zogen sich die Live-Stream Übertragung an der großen Bühne rein. Die Stimmung war formidabel, richtig Festival-mäßig! Auch selten, so etwas bei einer Debut-Veranstaltung zu erleben. Abends wurde dann noch von einem DJ ein bisschen eingeheizt. Die meisten versuchten aber spätestens um 9 Uhr im Bett zu liegen und sich zu erholen – zu groß war die Nervosität und Anspannung vor dem großen Rennen.

Tag 3: Alter Schwede, ist das steil!

Nach einer unglaublich kurzen Nacht (man lernt nie dazu und macht alle Fehler nochmal: viel zu spät Abendessen, ein Bier trinken, bis Mitternacht am Handy rumtippeln) schälte ich mich gegen 5 Uhr morgens völlig gerädert aus dem warmweichen Bett. Draußen war es noch kalt und dunkel und weil der Start nicht in Immenstadt, sondern in Sonthofen war, musste ich zuerst noch eine halbe Stunde zur Startzone zuckeln. Dort angekommen war bereits reges und hastiges Treiben. Was sofort auffiel, waren die vielen Zuschauer, die sich beidseits der Straße postiert hatten. Unüblich für ein Jedermannrennen, aber ziemlich geil.

Als der Startschuss fiel, setzte sich der bunte Trek recht schnell in Bewegung. Die ersten Kilometer sollten als „Neutralisiert“ gelten. Davon spürt ich allerdings herzlich wenig: Kaum aus der Stadt raus, hörte man links und rechts die Schaltungen knallen. Die ersten 30-40 Kilometer waren relativ flach und das Peloton jagte mit über 40 Stundenkilometern auf den ersten Anstieg des Tages zu. Die unerfahrenen Fahrer verkalkulierten sich bereits hier mit ihren Kraftreserven, weshalb man schon bei den ersten Höhenmetern diverse Ausfallerscheinungen sehen konnte.

Da ich einem Team zugeteilt war, deren Ziel nur das Mitmachen und nicht irgendeine Zeit oder Platzierung war, ging es nach der großen Flachetappe mit 20 Stundenkilometer Durchschnitt sehr langsam zur Sache. Für mich persönlich zu langsam. Ein Blick auf die Uhr (es gibt beim Radrace 120 einen Timecap) wurde mir etwas mulmig zumute und ich entschied, entgegen dem Reglement, mich vom Team abzusetzen und solo weiterzufahren. Dabei gab es zwar nichts zu gewinnen, ich wollte aber in meiner favorisierten Geschwindigkeit fahren und versuchen, in unter fünf Stunden ans Ziel zu kommen. Ab dem Sausteig, einem der ersten Anstiege des Tages, an dessen Endpunkt eine Labestation mit Flüssigkeiten, Gels, Riegeln und Bananen zur Verfügung stand, zog sich das Peloton immer stärker auseinander. Einer bedröppelt dreinblickenden Teilnehmerin war die Kette gerissen und sie hielt das schwarzölige Stück Metall wie ein Zepter in der Hand, in der verzweifelten Suche nach einem Mechaniker mit Ersatzteilen, den es aber nicht gab. Hier auch ein kleiner Kritikpunkt: Es wäre fürs nächste Mal gut, wenn es bei den Labestationen oder auf einem der Begleitmotorräder einen technischen Support gäbe. Die Abfahrten warten rasant und die Strecke durchaus anspruchsvoll. Aus diesem Grund kam es auch zu diversen Stürzen Begegnungen mit dem spitzsteinigen Bankett. So konnte ich bei der Abfahrt gleich zwei Verunglückte sehen, die bereits von einem Notarzt versorgt wurden. Radsport ist und bleibt gefährlich.

Nach einer phänomenal schönen Strecke über den Hirschgund und Rohrmoos inklusive atemberaubender Aussicht, ging es mit Vollgas auf die große Herausforderung des Tages zu: Der Riedbergpass. Drei Rampen mit 16 Prozent galt es hier zu meistern. Selbst für erfahrene Bergfahrer kein leichtes Unterfangen. Da ich den Pass schon am Vortag zum Spaß abgefahren war, wusste ich bereits, was mich erwartet. Allerdings war ich aufgrund des Fehlens eines Teams und somit eines Windschattens bereits ein wenig müde. Am Berg konnte ich jedoch viele Teilnehmer einholen, was wiederum gut für meine Moral war. Auch diverse Diskussionen mancher Teams trugen dazu bei, mich von meiner Erschöpfung abzulenken. „Au weh, die Schere kommt immer näher, Jungs. Jetzt nochmal Gas geben“, rief einer der Teilnehmer seinen Teamkameraden zu. Eine Anspielung darauf, dass in 30 Minuten der Timecap erreicht sein würde. Hier merkte ich jedoch, dass das RadRace 120 aus guten Gründen ein Team-Event ist und keines für Solo-Fahrer. Allein müht man sich doch schon sehr ab.

Nach einer schnellen Abfahrt, bei der es erneut zu einem sehr ernsten Sturz gekommen war (der Verletzte musste auch mit dem Helikopter abgeholt werden) folgte eine längere Flachetappe nach Richtung Balderschwang und die finalen zwei Anstiege, die mich nochmal einiges an Körnern kosten sollten. Ich lutschte meine letzten beiden Gels und war erleichtert, als ich den achten und somit letzten Anstieg des Tages hinter mich gebracht hatte. Laut Navi waren es nun nur noch zwei Kilometer bis zum Ziel. Ich sammelte meine letzten Kräfte und schoss kurz hinter Sonderdorf maximal motiviert in eine steile Kurve. Innerlich schloss ich bereits feierlich mit dem Renntag ab. Doch ich hatte meine Rechnung nicht mit den finalen 600 Metern gemacht. Es scheint so, als sind die RadRace-Veranstalter ziemliche Masochisten, denn der Zielsprint bestand aus einer gnadenlos steilen 18 Prozent-Rampe, bei der ich fast vom Rad gekippt wäre. Ein paar Fahrern ging das wohl auch so, was einigen am Schluss die Zeit vermasselte.

Umringt von hunderten Zuschauern, die aus vollen Kehlen die abgekämpften Sportler anfeuerten, stieß ich durch den Zielbogen. Was für ein Wahnsinn. Im Ziel war die Party bereits im vollen Gange, jeder feierte jeden, Bengalos und Rauchstäbe wurden gezündet, stampfende Elektro-Rythmen übertönten die Jubelnden ebenso wie die Helden. Die ersten Biere des Tages wurden gestürzt, Selfies geschossen, Hände geschüttelt. Was für ein Rennen, welch ein Fanal! Mit knapp unter fünf Stunden Fahrtzeit hatte ich es geschafft, das Ding in einem für mich akzeptablen Zeitrahmen zu meistern. Mein Team, so hörte ich später auf dem Festivalgelände, hatte leider den Timecap nicht geschafft und galt als DNF. Vielleicht klappt´s ja im nächsten Jahr.

In Sonthofen knallten bereits die Korken als die abgekämpften Fahrer Team für Team eintrudelten. Für diese hatte man ein großes Obst-Buffet vorbereitet, bei dem man sich nach Belieben bedienen konnte. Ebenso gab es natürlich Pasta und Bratwurst- und Steaksemmeln. Die Siegerehrung auf der Hauptbühne hatte es dann nochmal in sich, inklusive einer Sekt- und Bierdusche. Diese läutete das offizielle Ende des RadRace 120 ein. Nach diversen Ratscherein mit Freunden und Bekannten rollte ich zurück nach Immenstadt, duschte mich und stieg in den Zug gen Heimat.

Im Zug ließ ich die Tage nochmal Revue passieren und die vielen schönen Begegnungen während dem Rennen. Da wäre zum Beispiel die Teilnehmerin, die genauso wie ich solo fuhr, weil ihr Team zu langsam war, sich dann aber doch dazu entschied zu warten und mich ziehen ließ. Oder die Teams, die am Riedbergpass vom Rad stiegen und die drei Kilometer bis zum Passrücken per pedes zurücklegten. Aber vor allem die vielen Zuschauer, die bis zum Schluss die Rennfahrer anfeuerten und am Straßenrand eine Party veranstalteten, die man so eigentlich nur von Profi-Rennen kennt.

Das Debut des RadRace 120 ist nicht nur geglückt, sondern wird sich aus diesen und vielen anderen positiven Gründen bei den Teilnehmern ins Gedächtnis gebrannt haben. Eine Radsport-Veranstaltung wie diese ist in dieser Form ein erfrischendes Novum. Zum einen, weil es zeigt, dass Rennradfahren weder spießig noch altbacken sein muss, vor allem aber zeigt es, dass man als Hobbyfahrer auch in den Genuss einer Profi-anmutenden Veranstaltung kommen kann. Besonders die komplett gesperrten Straßen waren ein der Hammer! An den drei Tagen war für alle etwas geboten: für die Hobbyfahrer und Connaisseure, für die Festival-Affinen, aber auch für all jene, die sich an einem herausfordernden sportlichen Wettkampf gegen andere (Teams) messen wollten. Durch diese gelungene Symbiose ist das RadRace 120 eine bis jetzt einzigartige Veranstaltung, die hoffentlich in Zukunft erneut stattfinden wird. Wünschenswert wäre es! Denn im nächsten Jahr bin ich garantiert wieder dabei – aber diesmal mit einem Team!

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