Der Fotograf und Filmemacher Ryan Le Garrec ist vor allem in der Ultra-Cycling Branche eine Institution. Auf feinfühlige und spannend unaufgeregte Art schafft er es, in seinen Arbeiten die Atmosphäre und Emotionen von Ultra-Rennen einzufangen und  einen  intimen Einblick über die Teilnehmer dieser Höllentouren zu vermitteln. CLEAT sprachen mit Ryan über seine Arbeit, seine Leidenschaft, aber auch über den starken emotionalen Aspekt des Radfahrens.

Interview: Max Marquardt / Fotos: Ryan Le Garrec

CLEAT: Hi Ryan, danke, dass du dir für uns Zeit genommen hast. Erzähl uns, wie du zur Fotografie gekommen bist?

Ryan Le Garrec: Ich befasse mich mit Kameras, seit meiner frühen Kindheit. Mein Vater war Kriegsreporter und meine Mutter Nachrichtenredakteurin. Ich wurde in London geboren, jedoch zogen meine Eltern dann nach Los Angeles und später nach Paris. In Paris und Brüssel studierte ich Film und Kunst. Allerdings konnte ich in keinem akademischen Beruf wirklich Fuß fassen, weshalb ich erstmal nach Schweden ging, um dort für eine Firma zu arbeiten. Von dort zog es mich quer durch die Kunst-Branchen: Theater, Film, Musik – im Endeffekt alles, was mit visuellen Dingen zu tun hat.

Du arbeitest als professioneller Fotograf und Filmemacher hauptsächlich im Fahrradbereich. Wie kam es dazu, dass sich die Radkultur mit deinem eingeschlagenen Weg kreuzte?

Ich wollte eigentlich nur ein Rad für meine Freundin kaufen und ehe ich mich versah, nahm ich selbst einen Job als Bike-Messenger an. Das ist bis heute der beste Job, den ich jemals hatte.

Für viele ist das eher eine abschreckende Erfahrung…

Naja, so richtig los ging es auch erst nach dem Transcontinental Race 2018 – ein absolutes Monster von Rennen! Auf dem halben Weg musste ich aufgeben, weil ich so Rückenprobleme hatte. Ich hatte nur wenige Wochen vor dem Start einen Bandscheibenvorfall gehabt und konnte keine zehn Minuten aufrecht stehen, ohne mich zwischenzeitlich hinzusetzen oder hinzulegen. Brutal. Aber auf dem Rad ging es irgendwie. Erschwerend hinzu kam, dass ich beschissen vorbereitet war. Das war ja überhaupt auch erst mein erstes Rennen, mein erster Bikepacking-Trip – alles absolutes Neuland für mich. Das einzige, das ich wusste, war, dass ich 300 Kilometer pro Tag schon irgendwie hinkriegen würde.

War es der Masochismus oder ein anderer Grund, warum du dir das trotzdem angetan hast?

Ich wollte das TCR fahren, weil ich von den Geschichten um das Rennen selbst fasziniert war. Man hatte mir erzählt, dass manche Teilnehmer dabei sowas wie eine Erleuchtung hatten. Sie wurden durch das Rennen neu geboren und veränderten danach ihr Leben und ihren bisher eingeschlagenen Weg radikal. Viele von den Teilnehmern machten nach ihrer Rückkehr Dinge wie ihren Job zu kündigen, ihre toxische Beziehung oder Ehe zu beenden, ein Buch zu schreiben, für mehrere Jahre zu verreisen… Und ich spreche jetzt nicht von einer Sache wie einem Midlife-Crisis-Tattoo oder einem Fallschirmsprung, sondern von einem viel tiefgreifendem, emotionaleren Aspekt. Also ähnlich wie nach einer Nahtod-Erfahrung. Genau das wollte ich auch – Veränderung durch Eingebung.

Hat es geklappt?

Nun, nicht sofort. Zunächst war ich sogar enttäuscht darüber. Doch es gab eine Veränderung, nur aber eben langsamer als ich gedacht hatte. Ich bemerkte, dass meine Arbeit plötzlich viel Bike orientierter war. Ich hatte das nicht erzwungen, das kam einfach so. Nachdem mich Restrap um einen Artikel und ein paar Fotos von meinem TCR-Abenteuer gebeten hatten, entwickelte sich plötzlich eine Art Dominoeffekt. Ich fing daraufhin mit dem Schreiben von Fahrrad-Artikeln an, fotografierte Freunde bei gemeinsamen Ausfahrten, führte Interviews mit Radkurieren, begann für Radavist zu schreiben, fing einen Job für Ritchey an, fotografierte Cross-Rennen und so ging das dann weiter.

Dein Portfolio kann sich inzwischen in der Tat sehen lassen…

Ich bin inzwischen sehr stolz darüber, dass ich die beiden Filme „Hunt – Length of a Time“ (ein Film über die Tour Divide – Anm. d. Red.) und „Tugende“ (ein Film über das Race around Rwanda – Anm. d. Red.) veröffentlichen konnte. Außerdem sind noch ein paar Filme für Global Cycling Network auf Halde. Außerdem habe ich nun über sieben Rennen und zehn verschiedene Trips abgefilmt. Seit wenigen Tage ist übrigens unser neuer Film veröffentlicht, über den GBDuro! mit Josh Ibbett.

Auf deiner Webseite schreibst du in deiner Bio, dass du gerne ein besserer Fahrer wärst, sich das aber wohl nicht auszahlen würde. Ist also dein eingeschlagener Weg als Filmemacher und Journalist die bessere Alternative?

Ha, ich schreibe oft ziemlichen Stuss in solchen Biografien. Ich bin eigentlich gar nicht so übel auf dem Rad, aber wenn du auf einem Ultra-Rennen die besten Fahrer fotografierst und filmst, dann fühlst du dich dabei echt langsam und schwach. Aber seitdem ich im hügligen Hinterland Portugal lebe, jammere ich auch nicht mehr bei steilen Anstiegen. Es ist mir wichtig, so viel Zeit wie möglich auf dem Rad zu verbringen. Ich vergleiche das gerne mit dem Abschmecken beim Kochen. Du musst vorher probieren, ob es was wird oder nicht. Beim Radfahren musst genau wissen, wie es sich anfühlt, wenn du dich auf einer steilen Passage quälst. Du musst wissen, wie sich Kälte und Müdigkeit anfühlen, wenn du Tage auf dem Bike warst. Alles andere ist nur Geschwätz. Und ob es sich auszahlt? Ja, von der Arbeit in der Radbranche kann man leben, mal besser, mal schlechter. Es ist nicht der leichteste Job, das muss man natürlich zugeben. Ich kenne Leute, die machen Werbung für Mastercard und haben ein besseres Einkommen als ich. Trotzdem beneide ich sie nicht dafür, weil mir ein Job wie dieser nichts geben würde. Ich liebe meine Arbeit. Ich kann Drei-Tage-Schichten durchbuckeln und dabei nur die Hälfte verdienen und fühle mich am Ende des Tages trotzdem privilegierter als sie.

Woher nimmst du deine Inspiration beim Fotografieren und Filmen?

Meine Inspiration ist immer die, es besser zu machen als beim letzten Mal. Mich inspirieren die Menschen, die ich treffe, ihre Geschichten und die vielen Geschichten, die uns umgeben. Die Alltagshelden, der Taxi-Fahrer der Bach hört, das alte Ehepaar auf der Straße. Sogar der scheiß Lockdown hat mich irgendwie inspiriert. Und natürlich inspiriert mich mein Sohn – wie er mich ansieht, wie er mit mir spricht und wie er die Welt mit seinen Augen sieht.

„Ich bin eigentlich gar nicht so übel auf dem Rad, aber wenn du auf einem Ultra-Rennen die besten Fahrer fotografierst und filmst, dann fühlst du dich dabei echt langsam und schwach“

In deinen Filmen bemerkt man unweigerlich deine Faszination für das Radfahren bis zur totalen Erschöpfung. Was fasziniert dich daran so sehr?

Sich dabei zu verlieren und wieder zu finden, sich neu zu definieren, die Welt neu zu ordnen. Das ist bisher auch immer mein Fokus und meine Inspiration gewesen, bei all meiner Arbeit. Besonders faszinieren mich dabei die Menschen, die einfach nur das tun, was sie so sehr lieben – völlig kompromisslos. Sie machen das einfach und es fühlt sich manchmal so an, als müssten sie sterben, wenn man ihnen das wegnehmen würde. Diese grenzenlose Leidenschaft ist so faszinierend. Es ist wahre Hingabe.

In einem anderen Interview hast du gesagt, dass  Medienschaffende die Verantwortung dafür haben, sich eine neue Herangehensweise zu erarbeiten, die den Sport zwar auf der einen Seite porträtiert und dadurch für die Betrachter zugänglich macht, ihn aber auf der anderen Seite nicht kompromittiert. Als Fotograf und Filmemacher muss man jedoch unweigerlich nah am Objekt, nah am Sportler sein. Nur so kann doch der Zuschauer die Emotionalität und die Atmosphäre des Gefilmten erahnen, oder?

Ein Beispiel: Du fährst mit deinem Rad durch die Nacht, weit weg von jeglicher Zivilisation, irgendwo in den Bergen. Du bist in einem Gebiet unterwegs, das für seine Population an Bären berüchtigt ist. Du hast Angst, aber du bist müde, dir ist kalt und du hast Hunger. Das ist eine krasse Erfahrung, oder? Okay, jetzt stelle dir genau diese Situation vor und addiere ein Filmteam, das dich in einem Auto begleitet, nur zehn Meter von dir entfernt. Die Scheinwerfer weisen dir den Weg voraus, du siehst, wie sie ihre Kameras auf dich richten, du atmest die Auspuff-Abgase ein, du hörst den Motor, die Stimmen vom Team, das Auslösen der Kameras…

Es währe eine völlig andere Erfahrung…

Ja genau. Eine völlig andere Welt sogar! Vielleicht wäre ein neuer Ansatz, den Protagonisten während dem Empfinden dieser intensiven Erfahrung nicht zu begleiten, nicht zu stören. Das ist ja auch ein sehr intimer Moment. Zumindest müssen wir versuchen, ihm das Gefühl zu vermitteln, dass wir gar nicht da sind. Wenn wir Ultra-Radrennfahrer filmen möchten, dann müssen wir das so tun, wie Truman in der Truman-Show.

Doch Truman wusste es ja zuerst nicht, dass man ihn für das Amüsement anderer filmt.  Das missfiel ihm eben aus diesem Grund –  vor allem auch deshalb, weil es hier um Voyeurismus geht. Ein Sportler, der im Vorfeld gefragt wird, ob man ihn filmen darf und der dann einwilligt, der ist sich vielleicht der Tatsache bewusst, dass ihm am Ende seines Rennens oder Trips eben genau diese Aspekte des Erlebten fehlen werden…

Der Vergleich ist beabsichtigt etwas überspitzt– aber die Idee geht in diese Richtung. Kleine Action-Cams eignen sich hierfür hervorragend, man kann heute Drohnen sehr effizient einsetzen. Aber auch versteckte Kameras auf der Strecke, das Verwenden von großen Zoom-Objektiven für Nahaufnahmen und so weiter. Was ich damit sagen möchte ist, dass ich jede Menge Ideen habe, damit wir in Zukunft, insbesondere was Rennen betrifft, weniger ein Störfaktor für die Teilnehmer sind. Wir haben hier schon viel gelernt, müssen aber in Zukunft mehr tun, um diese Attitüde umzusetzen. Darauf sollten wir fortan bauen.

„Wenn wir Ultra-Radrennfahrer filmen möchten, dann müssen wir das so tun, wie Truman in der Truman-Show“

Du schreibst inzwischen auch für verschiedene Magazine und Blogs. Ist das Schreiben mit dem Fotografieren gekommen oder war dieser Aspekt schon vorher da?

Ich habe immer schon geschrieben. Es ist schön, wenn ich eine gute Eingebung habe und das dann auch so zu Papier bringen kann. Das ist aber nicht immer der Fall. Es kommt und geht. Ich schreibe auch nicht hauptberuflich. Wenn ich das versuchen würde, wäre es wohl eine Katastrophe. Ich schreibe einfach, wenn es mir gerade passt, wenn ich mich gerade danach fühle.

Das ist aber auch ein ziemliches Privileg, oder?

Ich habe über sechs Monate gebraucht, um meinen Artikel über das Rennen in Portugal zu schreiben. Das heißt, ich habe sechs Monate gewartet, weil ich davor nicht in der richtigen Stimmung war. Ein paar Mal versuchte ich mich dazu zu zwingen, aber unter diesem Schreibzwang geht gar nichts, also nahm ich mir einfach die Zeit.

Hat es sich am Ende gelohnt?

Es ist eine kurze Geschichte, aber sie ist tiefgründig und ehrlich – also ja, ich bin zufrieden damit. Das Schreiben selbst ist relativ einfach, wenn du dich dem Erlebten ergibst und dies notierst. Schöne oder prägende Momente, das Leben an sich… Es ist eine Lüge zu behaupten, dass man zu Hause im stillen Kämmerlein auf einem Papierblock vor sich hinschreibt. Das ist Schwachsinn.

Kommen wir zu deinem Film „Tugende“, in dem du das „Race Around Rwanda“ zusammen mit deinem Kollegen Lander Deldime porträtiert hast. War es sehr schwierig in Rwanda zu filmen und zu fotografieren?

Tugende war der bisher leichteste Dreh, den wir bisher hatten. Die Renn-Orga war unglaublich und alles wurde uns so leicht wie möglich gemacht. Im Nachhinein finde ich unseren Film ziemlich shitty, wenn man bedenkt, welche Möglichkeiten uns vor Ort gewährt wurden. Wir hatten sogar einen eigenen Fahrer – der absolute Luxus. Ich kann gar nicht sagen, wie dankbar ich den Organisatoren Simon und Matt, sowie „Visit Rwanda“ und den Teilnehmern bin.

Besonders inspirierend fanden wir die beiden Fahrer vom Nationalteam Rwanda. Sie schienen trotz der Strapazen durchwegs gut gelaunt zu sein und lachten permanent. Besonders witzig ist auch ihr Pragmatismus bezogen auf die Ausrüstung: Eine Taschenlampe, die mit Gaffer-Tape an den Helm geklebt wurde, damit man nachts ein Licht hat – unglaublich! Da könnten sich einige Europäer ein Stück von abschneiden…

Wir waren alle total beeindruckt vom puren Talent dieser Fahrer. Das Fahrrad hat in Rwanda einen großen Stellenwert. Es ist der Wahnsinn: Taxi-Bikes, Cargo-Bikes, die mit fünfzig Kilo Kartoffeln beladen sind, rostige Singlespeeds ohne Bremsen. Viele sind auf ihren alten Kisten schneller als mancher Europäer mit seinem Carbon-Renner. Das Rennen war für alle Beteiligten eine unglaublich schöne Erfahrung.

Du hast vor einiger Zeit verlauten lassen, dass du ein Buch veröffentlichen willst. Gibt es hier schon Neuigkeiten?

Es ist immer noch ein Traum von mir. Also mal sehen. Es ist schon eine ziemliche Aufgabe, in einem Buch das zu verschriftlichen, was unsere Filme dem Zuschauer nahebringen. Was ich wirklich gerne tun würde, wäre eine Pause von der Filmerei einzulegen, um mich voll und ganz diesem Projekt widmen zu können. Am besten wäre da ein Verleger, der mir ordentlich Druck macht und ein entsprechendes Budget zur Verfügung stellt. Dann könnten wir auf die verschiedenen Rennen gehen und einfach nur Geschichten sammeln und Fotos machen. Yeah – das wäre echt ein Traum!

Weitere Infos, Kontakt und viele Fotos von Ryan seht ihr auf seiner Webseite: http://www.ryanlegarrec.com/