Keine Veranstaltungen, keine Rennen, keine gemeinsamen Ausfahrten: durch die Corona-Beschränkungen und den inzwischen zweiten Lockdown fällt vielen Ausdauersportler das Training schwer. Doch lässt uns die aufkeimende Lethargie eher zu Genussmitteln wie Alkohol und Tabak greifen? Eine Bestandsaufnahme.
Kommentar: Max Marquardt
Ständig sprechen wir darüber, was, wann und wie viel wir trinken – und ob das noch im Rahmen ist. Rennen: abgesagt. Veranstaltungen: abgesagt. Sportstätten: schon seit November geschlossen. Für viele ist der Griff zur Flasche eine der letzten Freiheiten im Lockdown.
Unser neuer Alltag ist ein Wechselspiel aus Supermarkt und Amazon, Homeschooling und Zwift. Doch weil Training um des reinen Trainingswillen selbst für hypermotivierte Sportler oftmals eine Überwindung ist, beginnt so manch ambitionierter Trainingsplan schnell zu bröckeln. Insbesondere beim Thema Ernährung und Alkohol. Schwedische Wissenschaftler haben in einer Studie die Auswirkungen der Pandemie auf den Konsum von Genussmitteln bei Sportlern erforscht. Das Ergebnis: 16 Prozent der Befragten gaben an, dass sich die Lockdowns negativ auf ihr Trinkverhalten ausgewirkt habe. Die Probleme seien vor allem das Training ohne Perspektiven oder Ziele. Ebenso fehle vielen durch die Schließung der Sportanlagen und Fitnessstudios die soziale Kontrolle.
Doch ist der Konsum von Alkohol tatsächlich gestiegen? Die Umsatzzahlen in der Getränkebranche geben zunächst ein widersprüchliches Bild. Laut Angaben des Statistischen Bundesamts verkaufen die Brauereien viel weniger Fassbier. Das ist nachvollziehbar, denn die Gastronomie ist seit Monaten geschlossen, ebenso gab es keine Volksfeste. Gleichzeitig stieg jedoch der Flaschenbierabsatz im Einzelhandel. Auch die deutsche Weinbranche boomt: Trotz geschlossener Restaurants wurden 2020 im zweiten Quartal 12,5 Prozent mehr Flaschen verkauft als im Vorjahr.
Das Zentralinstitut für Seelische Gesundheit (ZI) in Mannheim ermittelte in Kooperation mit dem Klinikum Nürnberg, dass der Alkoholkonsum bei mehr als einem Drittel der Erwachsenen seit Beginn der Coronakrise gestiegen sei. 37,4 Prozent der rund 3.200 Teilnehmer gaben demnach bei einer anonymen Online-Umfrage an, „mehr oder viel mehr Alkohol“ getrunken zu haben als zuvor. Auch weltweit hat der Alkoholkonsum in der Pandemie zugenommen. Laut der Global Drug Survey hat sich das Trinken einfach nach Hause verlagert. Für die internationale Studie wurden im Mai und Juni 2020 insgesamt 58.811 Personen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Irland, Österreich, in den Niederlanden, der Schweiz, Australien, Neuseeland, Brasilien und in den USA befragt. Davon gaben 43 Prozent an, häufiger Alkohol getrunken zu haben und 36 Prozent gaben an, mehr Alkohol konsumiert zu haben
„Selbstoptimierung funktioniert nur, wenn sie sozial belohnt wird“
In der Sportszene hat sich mit dem Fortschreiten der Pandemie vieles verändert. Hatten noch im Frühjahr vergangenen Jahres viele die vermeintlich neugewonnene Freiheit der Arbeit im Homeoffice dafür genutzt, härter und öfter zu trainieren, sich ein neues Bike aufzubauen oder mit einer weiteren Sportart zu beginnen, stoßen diese Unterfangen inzwischen nur noch auf ein Achselzucken. Leistungserhalt, so scheint es, ist nicht mehr en-vogue. Die gesellschaftliche Ächtung für Alk und Kippen: passé. Im Sport war Alkohol bisher nur eine nebensächliche Begleiterscheinung. Eine Belohnung nach einem erfolgreichen Event. Jetzt ist Alkohol das Event selbst. Statt KOMs und QOMs auf Strava zu jagen, verköstigt man nun Wein über Zoom – und prostet mit dem Bildschirm an.
„Selbstoptimierung funktioniert nur, wenn sie sozial belohnt wird“, sagt der Ernährungssoziologe Daniel Kofahl. Ohne Applaus und Ansporn von außen würden die wenigsten Askese betreiben. „Wir tendieren eindeutig zum guten Leben, nicht zur Selbstkontrolle“, so Kofahl. Die sozial erlernte Mäßigung, die etwa auch zukünftige Gesundheitsfolgen berücksichtige, stehe inzwischen unter dem Gefühl des momentanen Glücks des Wohlfühlens – zum Beispiel ein Glas Wein auf der Couch. Die Entschuldigung: Einfach mal nicht so streng zu sich sein. Schließlich ist das Leben auch schon ohne Intervall-Training hart genug.
Der Ex-Nationalspier Uli Borowka beobachtet die steigenden Zahlen mit Sorge. Der 57-Jährige ist bekennender Alkoholiker, der seit der Jahrtausendwende abstinent lebt. Mit seinem Verein für Suchtprävention betreut er viele Profisportler. „Die Rückfallquote ist in den letzten Wochen ist enorm gestiegen“, sagt Borowka. „Suchtkranke und depressiv veranlagte Menschen sind nun mal besonders anfällig, in alte krankhafte Verhaltensmuster abzugleiten, weil ohne den normalen Tagesablauf die Gedanken zu Existenzängsten und das Gefühl der Einsamkeit noch verstärkt werden.“ Der von ihm betreute Personenkreis sei zudem in den letzten Wochen angewachsen durch neue Fälle. „Einige Dutzend Profisportler verfallen in Zeiten der Isolation und Unsicherheit in verstärktem Alkoholkonsum.“
Fest steht: die Pandemie und der Lockdown werden uns noch lange erhalten bleiben. Und damit auch Homeoffice und Home-Training. Was können wir also tun, um dem Problem des Home-Drinking Herr zu werden? Laut Kofahl könnte eine Lösung das Schaffen von besonderen Momenten sein. „Wenn etwas selten ist, hat es für uns unweigerlich einen größeren Wert. Die Verfügbarkeit ist begrenzt und erlaubt es uns, uns über den Genuss von anderen abzugrenzen. Zudem wissen wir, dass wir nicht jeden Tag dieses Vergnügen haben und messen ihm so unbewusst mehr Tiefe bei.“