In Rekordzeit und nur einem Jahr meisterte der 28-Jährige Jeff Garmire gleich drei der berühmtesten Trails Amerikas – insgesamt fast 13.000 Kilometer Gesamtstrecke. Doch für den Ultra-Hiker war diese Leistung weniger ein Kampf gegen die Zeit, sondern gegen seine Depressionen. In seinem Buch „Free Outside“ schreibt er offen über seine Krankheit und erzählt, wie ihm der Extremsport dabei geholfen hat, sich aus der dunklen Umklammerung zu entreißen – wenn auch nur für einen Augenblick
Fotos mit freundlicher Genehmigung von Jeff Garmire
Über einen Extremsportler wie Jeff „Legend“ Garmire könnte man jede Menge Spannendes schreiben: da wäre zum Beispiel die Geschichte, wie er in einem Jahr fast 13.000 Kilometer zu Fuß zurückgelegt hat. Oder wie er in Montana von einem Grizzlybären verfolgt worden und gerade so mit dem Leben davongekommen ist. Es sind Heldengeschichten, voller Ruhm und Tatendrang. Vielleicht ist auch das der Grund dafür, warum viele nicht wissen, dass Garmire bereits seit seiner Jugend an Depressionen leidet. Nach einer Statistik der Deutschen Depressionshilfe leiden oder litten in der Bundesrepublik 17,1 Prozent der Erwachsenen an unipolaren oder anhaltenden depressiven Störungen. Das ist circa jeder fünfte Bürger. Offen darüber gesprochen wird kaum. Besonders im Extremsport sind Depressionen ein Thema, das schnell tabuisiert wird. Es mag, so scheint es, einfach nicht zum Erscheinungsbild eines raubeinigen Athleten wie ihn passen.
„Noch vor wenigen Jahren hatte ich eine Arbeitswoche von 70 Stunden“, erzählt Garmire. „Ich habe versucht, Dinge zu finden, die mich irgendwie glücklich machen, doch da war einfach nichts.“
Garmire hat zu dieser Zeit einen Job im Finanzwesen. Das Geld ist gut, zumindest für seinen Kontostand. Aber jeder Anflug von Freude verschwindet hinter einer Mauer von Excel-Tabellen und Selbstzweifeln.
Schon während seiner High-School-Zeit leidet Garmire unter Depressionen. Er versucht, zunächst seine depressiven Episoden zu unterdrücken. Die Folge: die Depressionen kommen noch intensiver zurück. Er beginnt damit, sich selbst zu verletzen. „Wenn du das Gefühl hast, keine Kontrolle über dein Leben zu haben, dann ist Schneiden eine Sache, die du zumindest kontrollieren kannst“, sagt er.
Die Depressionen breiten sich im Leben des jungen Sportlers immer weiter aus. Besonders schlimm ist es in den Momenten, in denen er das Gefühl hat, nicht auf etwas hinzuarbeiten und weder ein Ziel, noch eine Perspektive zu haben. Genau das soll sich aber schon bald ändern.
Garmire wächst im US-Bundesstaat Washington auf und lebte relativ nahe am Pacific Crest Trail. Eines Tages beherbergten seine Eltern ein paar Wanderer, die auf dem Trail unterwegs gewesen waren, gaben ihnen etwas Warmes zu essen zu Schlafplätze. Garmire kommt das erste Mal in Berührung mit der „Trail Culture“. Für den damals Jugendlichen ein Damaskus-Erlebnis.
Nur kurze Zeit später plant er seine erste eigene Wanderung. 2011 startet er mit gerade mal 20 Jahren den Pacific Crest Trail, mit einer Gesamtlänge von 4800 Kilometern.
„Ich denke, das größte Problem bei Selbstmord und Depressionen ist das Stigma, nicht darüber zu sprechen – niemand möchte zugeben, dass etwas nicht in Ordnung ist“
„Auf dem Pacific Crest war ich seit langer Zeit wieder glücklich“, erinnert sich Garmire. „Aber Depressionen verschwinden nie wirklich – sie kommen immer wieder zurück – in Schüben.“
Nach zwei Wintern in den Rocky Mountains und einem gescheiterten Versuch, wieder zurück in sein altes Berufsleben zu finden, fasste er den Entschluss, seinen Job endgültig an den Nagel zu hängen. Seine neue Herausforderung: drei Trails in einem Jahr. Endlich hat er ein klares Ziel, eine Aufgabe vor Augen, an der er sich festhalten und so seine Depressionen bekämpfen kann.
Während seines einjährigen Abenteuers hat Garmire es mit teilweise extremen Temperaturen zu tun. Auf dem Appalachian Trail, dem berühmten 3500 Kilometer fassenden Fernwanderweg durch die Appalachen, muss er sich bei Minus 20 Grad und gefrorenen Schuhen und Socken bis zur nächsten, rettenden Unterkunft durchschlagen um nicht zu erfrieren. Doch der neu entflammte Lebensmut spornt ihn an: Nicht aufgeben, weitermachen – so weit die Füße ihn tragen.
Ende 2016 komplettiert er die sogenannte „Triple Crown“ – den 3.100 Meilen Continental Divide, den 2.190 Meilen langen Appalachian Trail und den 2.650 Meilen langen Pacific Crest Trail in einer Rekordzeit von nur einem Jahr. Er ist damit nicht nur der vierte Mensch dem das überhaupt gelingt, sondern auch der jüngste. Im September 2019 veröffentlicht Garmire mit „Free Outside“ sein Buch über die eindrückliche Unternehmung.
Ausserdem nutzt er sein „Triple Crown“-Abenteuer auch, um mehr als 12.000 US-Dollar für die amerikanische Stiftung für Selbstmordprävention aufzubringen, obwohl er zu diesem Zeitpunkt keine Details seines eigenen Kampfes mit der psychischen Erkrankung preisgibt.
„Ich denke, das größte Problem bei Selbstmord und Depression ist das Stigma, nicht darüber zu reden“, sagte Garmire. „Niemand möchte zugeben, dass etwas nicht in Ordnung ist. Und diese Einstellung trägt dazu bei, dass es bei jungen Menschen zu einer solchen Epidemie kommt.“
Nach dem „Triple Crown“ und der Veröffentlichung seines Buches gerät er erneut in einen Rückfall. Um seiner Depressionen Herr zu werden, versucht Garmire, 70 Meilen pro Woche Laufen zu gehen. Doch selbst durch diese Verausgabung kann er die Krankheit nicht abschütteln. Er braucht ein neues Ziel. Dieses Mal soll es der „Great Western Loop“ werden, eine 7000 Meilen lange Route, die Teile des Pacific Crest Trails, des Pacific Northwest Trails, des Continental Divide, des Grand Enchantment und des Arizona Trails abdeckt. Ein wahres Monster, das sich über die Berge und durch die Wüsten des amerikanischen Westens schlängelt. Garmire braucht insgesamt 208 Tage und 15 Stunden. Er ist somit weltweit der zweite Mensch, der den „Great Western Loop“ jemals abgeschlossen hat.
In den letzten acht Jahren hat Garmire eine Gesamtdistanz von fast des gesamten Erdumfangs zurückgelegt. Auf den Trails zu wandern ist für den Extremsportler „eine Flucht nach vorn“ und eine Strategie, mit der er immer wieder gegen seine Depressionen vorgehen kann.
Ob er sie jemals gänzlich abhängen kann, weiß er nicht. „Ich denke, sie werden immer da sein. Ich glaube, man kann Depressionen nicht wirklich besiegen. Man kann aber einen Weg finden, sie zu überwinden und sie in den Griff zu bekommen.“
Weitere Informationen zu Jeff´s Buch „Free Outside“ findet ihr auf seiner Webseite: freeoutside.com