Liebe Leser,
Zu unseren Fahrrädern haben wir ein sonderbares Verhältnis. Wir lieben sie, wir loben sie; sie werden vergöttert und verflucht – manchmal beides zur gleichen Zeit. Wir hängen sie in unsere Wohnzimmer, geben ihnen Namen oder prügeln die Scheiße aus ihnen heraus – in abartigen Bergsprints oder auf Trails, steiler als die Eiger-Nordwand. Und wenn dabei irgendetwas an ihnen kaputt geht, heulen wir rum. Und wir werden wütend. Dann werfen wir den „verdammten geldgeilen“ Herstellern vor, sie hätten uns hinters Licht geführt – Materialermüdung, Montags-Produkt, Gewährleistung, Empörung. Oder es trifft den Mechaniker unseres Radladens – der mal wieder „nichts, aber auch gar nichts am Rad gemacht hat“, weil er ein „fauler Penner“ ist und wir das selbst sowieso ganz anders, viel „besser“ gemacht hätten.
Es gibt in den USA einen Typen Namens Craig de Martino. Bei einem Kletter-Unfall verlor er ein Bein und hat seitdem eine versteifte Wirbelsäule. Weil er bis heute chronische Schmerzen hat, schluckt er Schmerztabletten wie andere Smarties. Doch anstelle als Binge-Glotzer in einem ranzigen Trailerpark im Selbstmitleid zu versinken, klettert dieser knallharte Banger härter und krasser als die meisten Menschen, die noch alle Gliedmaßen ihr eigen nennen können. Warum ich sowas in einem Radmagazin schreibe? Nun, Craig hat in einem Interview mal folgendes gesagt: „Das Leben besteht zu 10 Prozent aus Ereignissen und zu 90 Prozent aus deiner Reaktion darauf“. Ich finde, dass das ziemlich gut in unsere kleine (Rad-) Welt passt.
Viel zu oft denken wir, dass es echt schlecht um uns bestellt ist. Dass wir Pech oder einen miesen Tag haben. Dass die Trails schon wieder nass sind, das Bike plötzlich „scheiße“ ist, oder uns das Schicksal auf eine weitere Probe stellt, weil wir das Schaltauge verbogen haben. Doch in Wirklichkeit sind das alles nur Befindlichkeiten, an denen wir uns so gerne mit all unseren First-World-Ansprüchen reiben. Es sind die Reaktionen auf ein winziges, vollkommen unbedeutendes Ereignis. Ein gebrochener Rahmen ist beschissen, keine Frage. Aber es ist kein verdammter Todesfall. Die meisten von uns haben einen Job, mit dem sie Geld verdienen. Wir haben einen Lebenspartner, der sich auf uns freut oder einen Hund der mit dem Schwanz wedelt wenn wir abends genervt aus der Arbeit kommen. Keiner von uns muss morgens drei Kilometer laufen, um Wasser aus einem Loch zu hieven oder zur Notdurft auf den Donnerbalken im Wald. Stattdessen regt uns auf, dass Instagram für eine Stunde down ist, der neue Standert-Rahmen mehr als unser Auto kostet oder der Trottel im Café nicht kapiert hat, was wir mit „extra stark, extra Schaum“ meinten, als wir bei ihm unseren Hafermilch Latte-Macchiato bestellt haben.
Brechen wir es also mal auf das Wesentliche herunter: Wir haben einen schlechten Tag, weil uns irgendetwas aufregt, das vollkommen trivial ist. Ein schlechtes Dies, ein schlechtes Das. Und trotzdem besitzen wir das luxuriöse Privileg, jederzeit auf unserem 3000 Euro Hobel durch den Wald zu knallen, um ihn danach mit wohlriechenden Premium Muc-Off Produkten (ja, der Kettenreiniger der so geil nach Kaugummi riecht!) saubermachen zu können. Und dann wäre da ja noch der Hund mit dem wedelnden Schwanz, oder der Partner, der was für uns gekocht hat, während wir damit beschäftigt waren uns darüber aufzuregen, warum uns vorhin der Arsch auf dem Rennrad nicht zurückgegrüßt hat. Aber wisst ihr was? Irgendwo da draußen hat jemand einen verdammt guten Tag. Einer, der zehntausendmal schlechter ist als unserer. Ereignis – Reaktion: Führt euch das nochmal zu Gemüte, wenn ihr das nächste Mal genervt seid, weil es regnet und ihr nicht draußen fahren „könnt“. Dann presst euch ein Lächeln aus der Trauer-Visage und denkt an Craig de Martino. Der kraxelte trotz seiner Handicaps den berüchtigten El Capitan im Yosemite Nationalpark nach oben – in weniger als 24 Stunden.
Bevor ihr euch nun also maximal motiviert aufs Bike schwingt, möchte ich euch noch ein paar unserer neuen Artikel ans Herz legen. Zum Beispiel „Der stille Beobachter“, unser Interview mit dem Fotografen Dominik Kappelmeier, der uns ein paar Einsichten in seine Arbeitsweisen gibt. Zum Artikel. Nicht weniger lesenswert ist die Daten-Auswertung der SOS-Notrufe des Garmin inReach-System. Zum Artikel. Und auch unsere „Gear for Tomorrow“-Sektion haben wir mal wieder etwas aktualisiert. Einfach auf der Landingpage nach unten scrollen.
Habt einen nicht allzu schlammigen November!
Euer Max & Cleat
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