Ein Tag hinter den Kulissen der Tour de France. Für die 9. Etappe der berühmten Radrundfahrt durfte CLEAT-Chefredakteur Max Marquardt mit Kamera und Kugelschreiber nach Troyes in Frankreich reisen, um vor Ort Fahrer, Mechaniker und Team-Mitglieder des Profi-Radteams Decathlon AG2R La Mondiale zu begleiten. Eine Hintergrund-Reportage vom größten Radrennen der Welt.

Text & Fotos Max Marquardt

Wenn die Tour de France zu Gast ist, steht alles Kopf. Von der Küste Nizzas bis nach Biarritz. Jede Stadt, jedes noch so kleine, abgelegene Dorf an einer der 21 Etappen, bekommt dann seine ganz persönlichen 20 Seconds of Fame. So auch die Stadt Troyes in Grand Est. In den Sommermonaten sind es höchstens Touristen, die durch die malerischen Gässchen der Altstadt flanieren oder in den Cafés und Restaurants für ein Glas Vin Rouge oder Champagner verweilen. Die Stadt ist pittoresk, romantisch gar. Doch sonst gibt es eigentlich keinen Grund, diese Region zu besuchen. Heute, an diesem heißen Juli-Tag ist das anders.

Die Stadt platzt aus allen Nähten. Radsport-Fans aus aller Herren Länder, Radteams und deren Mitarbeiter, Helfer, Fahrer und Medien-Teams sind mit gehörig Durst, Hunger und dem unstillbaren Verlangen nach Parkplätzen in die Stadt gekommen, die unter diesem spektakulösen Ansturm geradezu ächzt. Nichts geht mehr – Rien ne va plus! Die Hotels sind seit Monaten ausgebucht, bei den Pensionen braucht man gar nicht mehr nachfragen. AirBnB-Zimmer, die normalweise für unter 100 Euro die Nacht zu haben sind, kosten jetzt das Dreifache. „Tja, das ist halt die Tour de France“, erklärt mir bei meiner Ankunft eine Medien-Kollegin, die den Tour-Zirkus schon ein paar Mal mitgemacht hat. Die Absurdität: In weniger als einem Tag ist das Spektakel auch schon wieder vorbei. Dann sind die Straßen und Gassen Troyes wieder leer, die Preise auf Sterblichen-Niveau und es kehrt Ruhe in den umliegenden Dörfern ein, die wieder in ihrem Dornröschenschlaf der Bedeutungslosigkeit versinken dürfen – wohl für den Rest ihrer Existenz. Oder bis irgendwann mal wieder eine Etappe der Tour an ihren Häusern vorbeibraust. 

Am Stand des Tour-Teams Decathlon AG2R La Mondiale im Tour-Village werde ich am Eingang herzlich von Thomas Gendron begrüßt. Thomas ist eigentlich Student und arbeitet während seiner Semester-Ferien für das Profi-Team. Ein nicht gerade typischer Studenten-Job, führt man sich die enorme Belastung und den permanenten Schlafmangel vor Augen, denen die Mitarbeiter hinter den Kulissen ausgesetzt sind. Drei Wochen lang ist Thomas und sein Team auf Achse, jeden Tag woanders. Während sich das Decathlon-Team von den Strapazen der Etappen in ihren Hotelzimmern ausruhen kann, ist für ihn und die anderen Mitarbeiter noch lange nicht Feierabend. Aufbau, Abbau, der Empfang und die Bewirtung von VIPs und Gästen, das Durch-die-Gegend-Fahren von Pressefuzzis wie mich, Koordination, Organisation, Veranstaltungstechnik, Logistik – irgendwie ist Thomas ein Mann für alles. Tag ein, Tag aus, jeder gleicht dem anderen – und ist dennoch gänzlich anders. Thomas rückt sich seine RayBan-Sonnenbrille zurecht und streicht sich durch das seitengescheitelte Haar. „Heute wird eine harte Etappe – technisch vor allem“, sagt Thomas aufgeregt. Doch das Team habe starke Fahrer und er sei zuversichtlich.  

Mit Start und Ziel in Troyes erstreckt sich die heutige Etappe über 199 Kilometer durch die Champagne. Eine weite, liebliche Landschaft. Das Streckenprofil ist es weniger: Zahlreiche Hügel und steile Rampen durchziehen die Strecke. Hinzu kommen 14 knallharte Schotterabschnitte, die aus insgesamt 32 Kilometer unbefestigte Straßen bestehen. Es ist das erste Mal in der Geschichte der Tour, dass es derart lange Gravel-Sektoren gibt. Vor dem AG2R La Mondiale Decathlon Team-Bus treffe ich mich mit Luis Lamas, dem Chefmechaniker des Teams. Was wohl in Angesicht der heutigen schweren Etappe heute für Musik beim Team im Bus lief? Slayer? Pantera? Lamas lacht, will mir die Frage aber nicht so recht beantworten.

Ob sie denn bei der kommenden Schotter-Partie mehr zu tun hätten als sonst, will ich von dem stämmigen Franzosen wissen. „Tatsächlich, ja. Wichtig sind heute die Ersatz-Laufradsätze. Davon brauchen wir jetzt einfach mehr. Auch müssen wir die Sätze, die im Rennen waren, noch genauer prüfen als sonst. Der Kurs hat es schon in sich“, erklärt er. Für ihn sei es die nun vierte Saison bei Decathlon AG2R La Mondiale. Davor habe er bei Garmin Sharp und dann bei EF Education-Easy Post gearbeitet. „Ich bin aber schon viel länger dabei“, sagt Lamas. „Seit 1992“. Heute hat er auf alle Team-Räder 30 Millimeter Pneus aufziehen lassen, die mit 4-5bar aufgepumpt sind, je nach Fahrergewicht. Darauf seien die Schotterpassagen auf jeden Fall gut zu meistern. 

Die Van Rysel RCR Pro findet der AG2R-Mechaniker „großartig“. „Es sind wirklich tolle Räder, aber am allerbesten ist die Wartung. Es ist super easy! In knapp zwei Stunden haben wir den ganzen Bock auseinandergenommen und den Rahmen getauscht. Bei anderen Rädern dauerte das meist vier bis fünf Stunden“, sagt er begeistert. Und auch die Blicke der Fans, die sich vor dem Team-Bus drängen, verraten die Neugierde über das Decathlon-Rennrad. Bis vor wenigen Jahren schien es noch so, als wären die als No-Name Bikes verschrienen Maschinen, die Anschaffung nicht wert. „Joah, Grundsolide“, war in dieser Zeit das mitunter höchste Kompliment. Mit ihrem Eintritt in den Profisektor und einem eigenen Team, hat sich das Standing Decathlons für Radsportler schlagartig geändert. Viele Sportler, ob Hobby-Fahrer oder Profi, schwören auf die Produkte von Decathlon, die zumeist weniger als Hälfte kosten, als die der Marktbegleiter. 

Lamas und sein Team haben heute viel zu tun. „Wir hören auf zu arbeiten, wenn wir fertig sind – from Dusk to Dawn“, antwortet er mir und lacht. Und trotz der permanenten Bereitschaft und der langen Tour-Tage: So wirklich erschöpft scheint vom Team Decathlon AG2R La Mondiale niemand zu sein. Auch Thomas nicht, der gerade wieder Anweisungen durch sein Walkie-Talkie entgegennimmt. Er macht mit seiner Hand und ausgestrecktem Zeigefinger eine Drehung in der Luft. Wir müssen los – auf den Parcours!

In einem Begleitfahrzeug von AG2R La Mondiale Decathlon bahnen wir uns unseren Weg durch die Zuschauermassen. Wir lassen den wuseligen Startbereich hinter uns. Endlich raus aus der Stadt. Es wird schlagartig ländlich – und einsam. Grand Est ist neben der Beauce, südöstlich von Paris, Frankreichs Kornkammer. Vielleicht gibt es in dieser Region auch deshalb lediglich zwei Universitäten. Die Landschaft ist geprägt von Wäldern und Weiten, Wegen und Weilern. Heute, zur Tour de France, sind die Straßen jedoch gesäumt frenetisch feiernden Menschen. Mitten im Nirgendwo haben sie regelrechte Tafeln aufgebaut, an denen sie es sich in der Sonne gut gehen lassen, essen und Wein trinken. „In Frankreich gibt es zwei große Dinge“, erzählt uns unser Fahrer Clément Dupuy. „Fußball und die Tour de France! Danach kommt erstmal lange nichts mehr.“

Dupuy ist Sportlicher Leiter des AG2R U19-Teams, sowie des Nachwuchskaders – eine Art „Entwicklungsteam“, das bei Bedarf Fahrer direkt in die Worldtour-Teams transferiert. Dupuy ist schon seit zehn Jahren dabei und lenkt unser Auto gekonnt aber mit hoher Geschwindigkeit über die Straßen. Immer wieder hupt er, was die Menschen am Straßenrand mit Jubel erwidern. Begeisterung wohin man blickt. Gestern, erzählt Dupuy, sei für die Fahrer des Teams ein sehr langer Tag gewesen. Erst um neun Uhr abends wären sie im Hotel angekommen. Und dann heute noch dieser harte Kurs. „Es ist alles das Mindset“, sagt er. „Auch, wenn es hart ist, aber das Mindset definiert im Radsport einfach alles“. Es ginge auch nicht per se darum, einfach nur gut zu sein. Man müsse das Beste geben und diese Grenze dann nochmal überschreiten. Zähigkeit, Resilienz. Erst das, sagt Dupuy, würde aus einem Fahrer einen Profi machen. 

Im Live-Stream sehen wir, wie die Fahrer mit knapp 50 Sachen die D79 entlangknallen. Das Tempo ist hoch. Die Worte Dupuys hallen mir bei diesem Anblick nach. Am ersten Gravel-Abschnitt halten wir. Ich sprinte nach vorne in Richtung Strecke um eine gute Fotoposition einzunehmen. Im Nu werde ich schon von den riesigen Staubwolken umhüllt, die von den Begleitfahrzeugen und Motorrädern aufgewirbelt werden. Der Staub bleibt sofort an Kleidung und Haaren heften, hüllt die unmittelbare Umgebung und ein lehmiges Weiß. Ich versuche meine Kamera mit den Händen zu schützen, vergeblich. Dann kommen die Fahrer. Mit irrsinniger Geschwindigkeit bügeln sie über die Schotterpiste. Wer hier das Pech hat im Feld weiter hinten positioniert zu sein, bekommt das Gro des Staubs ab. Wie die Terrakottakrieger von Xian stampfen die Fahrer durch die Szenerie. Ein beeindruckendes Schauspiel.

Das AG2R La Mondiale Decathlon schlägt sich wacker; hat noch keine Ausfälle oder Defekte zu beklagen. Doch es ist noch nicht vorbei. Der anspruchsvollste Teil der Strecke liegt zwischen Kilometer 95 und 131, wo die Fahrer vier Schotterabschnitte und drei Anstiege in kurzer Folge bewältigen müssen. Sektor 13 stellt an diesem Tag wohl das größte Hindernis dar.

Kurz vor diesem hat der Kapitän von Decathlon-AG2R Felix Gall einen Platten. Ausgerechnet! Er verliert wertvolle Zeit und jagt dem Feld hinterher. Er wir in schlechtester Position auf den Gravel kommen. Der Einstieg in Sektor 13 ist nicht nur steil, sondern auch eng. Im Hauptfeld entsteht ein Stau. Viele Fahrer müssen nun absteigen und schieben, oder besser: Laufen. Eine chaotische Situation. 

In einem kleinen Dorf bei Celles-su-Ource, circa 40 Kilometer vor dem Ziel, halten wir nochmal an. Fans haben sich beidseits der Straße positioniert. Jung und Alt feiern. Während bei den einen die Weinflaschen klimpern, heben andere in freudiger Erwartung „ihrer“ Helden selbstgemalte Transparente in die Luft. Normalerweise ist wohl in dem kleinen Örtchen nie etwas los. Heute scheinen alle Einwohner raus auf die Straße geeilt zu sein.

Kaum habe ich eine halbwegs gute Position eingenommen, kommen auch schon die ersten Begleitfahrzeuge. Da die Straße vor mir eine kleine Bodenvertiefung aufweist, poltern die mit hoher Geschwindigkeit fahrenden Autos derart über das Hindernis, dass die Hecks der Fahrzeuge mit lautem Krachen aufsetzen. Das Publikum beklatscht es. Auch Dupuy muss schmunzeln. „Wir haben für die Team-Fahrzeuge Zweijahres-Leasing-Verträge. Danach gehen sie wieder zurück und werden verkauft – recht günstig sogar. Aber besser man kauft kein ehemaliges Team-Fahrzeug“, sagt Dupuy.

Die Ausreisergruppe zieht ungeheuer schnell um die Kurve. Vierzig Sekunden hinter ihnen der Rest des Feldes. Pogacar rückt nach vorn vor, Vingegaard lässt sich dies vom Slowenen nicht bieten und klettet sich an sein Hinterrad. Evenpoel kommt von hinten – schließt die Lücke.

Der letzte Schotterabschnitt endet nur 10 Kilometer vor dem Ziel, was die Schlussphase der Etappe besonders spannend macht. Die Zielgerade befindet sich auf dem Boulevard du 1er R.A.M. in Troyes und ist durch einige sanfte Kurven und einen Kreisverkehr kurz vor dem Ziel gekennzeichnet. Nach diesem Höllenritt haben die Fahrer erstmal einen Ruhetag. Davor geht es aber noch für sie zur nächsten Etappe, wo sie in ihr Hotel einchecken. 

Wir sind inzwischen wieder in Troyes angekommen und befinden uns im VIP-Bereich. Hier sind zwar schon vor der  Zieleinfahrt die Getränke aus (okay, Weißwein und Champagner), aber die Stimmung ist trotzdem ausgelassen. Auf den aufgebauten, großen Displays beobachten die Menschen die Rennentwicklung auf den letzten Kilometern.  Jasper Stuyven (Lidl-Trek) kommt mit acht Sekunden Vorsprung vom Schotter auf die letzten 6,5 asphaltierten Kilometer. Dann gibt es kein Halten mehr: alle fahren Vollgas bis zum Ziel in Troyes und sprinten mit allem, was sie noch haben. Anthony Turgis hat am meisten! Der Franzose gewinnt die 9. Etappe der Tour de France vor Pidcock und Gee! Was für ein Finale!

Oliver Naesen und Felix Gall kommen erst mit einem Rückstand von +1,46min im Ziel an. Dupuy ist jedoch dennoch nicht enttäuscht. Die Fahrer hätten sich auf dieser sehr herausfordernden und technischen Strecke bewiesen – und sie hätten keine Ausfälle oder schwere Stürze gehabt. Und außerdem: „Die Tour ist ja noch nicht vorbei“, so Dupuy. Noch zwei weitere Wochen warten auf ihn und das Decathlon AG2R La Mondiale Team – und die Vorfreude scheint groß zu sein. Ob bei all der Hektik, dem Trubel und dem Tour-Leben auch Zeit für Frau und Familie übrigblieben? „Gleich nach der Tour de France geht es für mich nonstop weiter zur Tour de Alsace“, antwortet Dupuy. Und danach müsse er sich um das U19-Team kümmern. Und wiederum danach müsse er… er wird kurz von einem Team-Kollegen unterbrochen, der eine organisatorische Frage hat. Insgesamt sei er pro Jahr aber lediglich sechs Wochen zu Hause. „Meine Frau ist nicht sonderlich glücklich darüber“, gibt Dupuy zu. „Aber: c ´est la vie“, sagt er und lacht. Dann muss er auch schon wieder los, das Fahrzeug zurückbringen und sich um andere Dinge kümmern. Es gibt noch viel zu tun.