Drei Freunde begeben sich auf eine Erkundungstour nach Lothringen. Zwischen Verdun und Saint Mihiel, mal rechts, mal links der Maas, auf Schotter, Asphalt, Trails, durch Städte und Dörfer, vorbei an überwucherten Schützengräben und über sanfte Auen. Stets mit Sonne im Nacken – und abends gutem Wein im Blut. Ein Reisebericht.

Text: Max Marquardt / Fotos & Video: Julian Hartwig / CLEAT Studios

Der zarte Schein des Feuers taucht den Raum in rotwarmes Licht. Doch von Wärme kann noch nicht die Rede sein. Das Bruchsteingemäuer unserer Unterkunft ist noch nicht mal ansatzweise gedämmt. Das Haus ist alt; älter als wir alle zusammen. Rustikal wäre für den Zustand der Bausubstanz aber untertrieben. Im Sommer ist es hier bestimmt ganz nett, irgendwie romantisch. Jetzt, wo die frostige Kälte des Winters noch in der Erde steckt, haust es sich hier wie in einem Keller. Wir sind zu dritt. Julian, Nico und ich. In den kommenden Tagen wollen wir einen Teil von Grand Est auf unseren Rädern erkunden. Heute ist unser erster Tag. Es regnet unablässig. Hoffentlich wird das Wetter besser. In unsere Jacken und Mützen gepackt, drängen wir uns um den kleinen Ofen aus Gusseisen. Das Knacken des schwelenden Holzes verspricht allmähliche Wärme. Julians Gesicht ist vom Leuchten seines Ipads-Displays erhellt. Klick-Klick-Klick. Routenplanung auf Komoot. Es gibt hier nicht viel – und das ist gut so. Der Regen prasselt auf das Blechdach. Wind pfeift durch die vielen Spalten der zusammengepfuschten Fenster und der Tür, die so schlecht schließt, dass man sie eigentlich auch hätte offenlassen können. Im ersten Stock unseres Schlafgemachs klafft ein Loch in der Wand, das lediglich mit Bauschaum verschlossen wurde. „Mei, Franzosen halt“, sage ich witzelnd zu den anderen. Keiner lacht. Es kehrt Stille ein. Wir lauschen dem Feuer und dem Wetter. Noch ein Glas Rotwein, dann husch ins Bett. Erwartungsvoll schlafen wir ein.

Der neue Tag begrüßt uns mit Regen. Natürlich. Der Wind drückt die Tropfen gegen die Kachel-Fenster, rüttelt an unserer Haustüre. Erstmal Kaffee – und dann Frühstück. In unserem Ort gibt es weder eine Boulangerie noch einen Supermarkt. Julian kehrt nach fast einer Stunde Autofahrt mit frischen Croissants zurück. Die Dinger sind verdammt gut. Wenig später machen wir die Räder fertig. Trek Checkpoints mit 42er Panaracer Gravelking SKs. „Damit kann man alles fahren“, sagt Nico und drückt mit seiner Hand auf den Reifen, um den Druck zu prüfen. Das macht natürlich keinen Sinn. Aber erstens hat man das schon als Kind so gemacht und zweitens haben wir unsere Pumpe zuhause vergessen.

Über schmale und wellige Asphaltstraßen pedalieren wir in Richtung Verdun. 70 Kilometer sollen es heute werden. Ein paar Schafe kommentieren unsere Vorbeifahrt blökend. Sonst ist hier niemand. Die Gegend ist wie ausgestorben, aber schön ruhig. So, wie es uns gefällt. Grober Schotter hat den Asphalt abgelöst. Die Waldwege sind in einem sehr guten Zustand. Fröhlich quatschend cruisen wir dahin. Durch das milchige Grau stößt gegen Mittag die Sonne hindurch. „Aah!“ Die Wärme tut gut, auf der Haut, wie im Herzen. Schnell trocknen unsere klammen Klamotten. Alles ist gut.

Weniger gut geht es uns in den weitläufigen Wäldern nördlich von Verdun. Beidseits der Straßen blitzen unnatürlich kreisrunde Tümpel und überwucherte Erdwälle durch das Dickicht. Vor über 100 Jahren tobte genau an diesem Ort die bis heute schlimmste Schlacht der Menschheitsgeschichte. Im Ersten Weltkrieg fochten hier Deutsche, Franzosen und Briten um gerade mal 15 Kilometer Land. Noch heute sind die unzähligen Granattrichter, Schützengräben, Verhaue und Bunker noch deutlich zu sehen. Verdun sei die Hölle, schrieben Augenzeugen. Eine Hölle, für die Deutschen ebenso wie für die Franzosen und Briten. Zwischen 1914 und 1918 explodierten an der Verdun-Front etwa 50 Millionen Artilleriegranaten. Die Landschaft wurde umgegraben, Wälder, Dörfer und Menschen pulverisiert. Zehntausende Tote wurden bis heute nicht geborgen. Väter, Söhne, Brüder, Ehemänner. Ein riesiger Friedhof – bis an die Stadtgrenze von Verdun. Die bleierne Schwere, die über diesem Landstrich liegt, drückt auf unser Gemüt. Schweigend rollen wir in die Stadt.

Sagen wir es mal so: wer mit der Erwartung nach Lothringen reist, es würde dort so sein wie in Paris, wird womöglich enttäuscht. Diese Region von Grand Est besticht durch seine Ländlichkeit. Das muss freilich nichts Schlechtes bedeuten, aber es gibt hier kaum etwas, was man mit typisch französischem Genuss und Kulinarik verbinden könnte. In anderen Worten: So leergefegt die ländliche Idylle ist, so dürftig sieht es auch in den Dörfern und Städten aus. Ausgestorben würde es auf den Punkt bringen, wären da nicht ab und an spärliche Zeichen von Leben, wie ein vorbeirasendes Auto oder ein Bauer auf einem Feld. Neben ein paar kleinen Boulangerien Metzgereien oder Supermärkten finden sich allerdings kaum Cafés oder Restaurants. In den einzigen größeren Städten wie Verdun oder Saint Mihiel sieht es ein wenig besser, aber für Touristen wie uns nicht unbedingt befriedigender aus.

In Verdun erkunden wir die Altstadt auf unseren Rädern, besichtigen die prächtige, aus dem 9. Jahrhundert stammende Kathedrale und genießen die Sonne. Als wir bei einer Kaffeepause in einem Café am Ufer der Maas nach „guten, typisch französischen Restaurants“ fragen, erhalten wir nur verdutzte Blicke und den Hinweis, man könne höchstens mal „im Internet“ danach gucken. Aber es gäbe eigentlich nicht viel, antwortet uns die schmallippige Bedienung schulterzuckend. Wir entscheiden, im Supermarkt einzukaufen und es uns dann wieder in unserer Kellerhöhle gemütlich zu machen.

Wir fahren weiter in nördlicher Richtung. Eine respektabel steile Serpentinenstraße führt uns durch den Caures-Wald in Richtung Damvillers, wo wir einen großartigen Sonnenuntergang erleben dürfen. Ein feuerroter Ball taucht die liebliche und sanfte Hügellandschaft in einen tieforangen Schein. Herrlich! An Le Point du Jour fahren wir an einem sehr schönen und ruhigen Wandergebiet mit vielen kleinen Tümpeln und Weihern vorbei. Im Sommer kann man hier, so erfahren wir später von unserer Vermieterin, wohl formidabel Spazierengehen und auch Forellen Angeln. Durch die ersten zarten Knospen an den Bäumen und Sträuchern, Vorboten des Sommers, können wir zumindest erahnen, dass es einer der herausragend schönen Flecken in dieser Region ist.

Zurück in unserer Unterkunft bereitet uns Nico ein Festmahl zu. Das Kochen auf den in die Jahre gekommenen Gas-Herdplatten benötigt jedoch etwas Zeit – und Geduld. Zum Glück haben wir uns im LeClerk-Supermarkt ausreichend mit Weinen aus der Champagne versorgt. Das Feuer im Wohnzimmerofen knistert, zuprostend lassen wir den Tag Revue passieren. Die Schwere der zerwühlten Landschaft in den Wäldern vor Verdun haben wir hinter uns gelassen. Morgen soll unsere Gravel-Reise nach Saint Mihiel gehen. Südwärts.