Jonathan Vaughters ist im internationalen Radsportzirkus ein Name an dem man nicht vorbei kommt: der US-Amerikaner war Rad-Profi, dann Doper, später Teammanager von EF-Education First. Als strikter Doping-Gegner spricht er sich inzwischen für härterer Strafen gegen die Betrüger aus. Nun hat Vaugthers seine lang erwartete Autobiografie veröffentlicht. In „One-Way Ticket“ schreibt er ungeniert ehrlich über leistungssteigernde Drogen, die Tour de France und einen Fahrer namens Lance.
Text: Rainer Sprehe / Fotos: mit freundlicher Genehmigung des Covadonga-Verlags
Zwei ärztliche Diagnosen sind es, die Jonathan Vaughters’ Karriereweg im Radsport rahmen, die erklären, warum dieser so und nicht anders verlaufen musste. 1994 ist der talentierte Nachwuchsfahrer aus Colorado gerade Hals über Kopf nach Spanien aufgebrochen, um seinen Kindheitstraum wahr werden zu lassen. Da teilen ihm die Ärzte seiner neuen Mannschaft nach der Eingangsuntersuchung aufgeregt mit, er habe eine riesige linke Herzkammer und Unmengen Hämoglobin im Blut. Die idealen genetischen Zutaten für eine große Karriere, heißt es.
Sein Chef beruft ihn gleich vom Amateur- ins Profiteam. Dumm nur: Es ist die Zeit, in der solche natürlichen Talente kaum noch etwas zählen, weil sich dem Sauerstoffgehalt des Blutes auch ungestraft mit EPO auf die Sprünge helfen lässt.
2018 schließlich erhält Jonathan Vaughters, inzwischen erfolgreicher Teammanager, eine weitere Diagnose, als er nach der zweiten gescheiterten Ehe seine trennungsbedingte Depression aufarbeitet: Er hat seit jeher das Asperger-Syndrom, eine Form von Autismus. Wie konnte das gutgehen in einem Milieu wie dem Profizirkus, der doch oft wie ein einziges großes soziales Experiment wirkt, wie ein hochkomplexes Rudel? Kein Wunder, so scheint es, dass Vaughters’ Weg im Radsport zur emotionalen Achterbahnfahrt geriet: Er lebte seinen Traum, er fuhr abwechselnd für Teams, die als „Saubermänner“ verlacht wurden oder im Doping-Wettrüsten alle Register zogen, er kehrte verbittert in die Staaten zurück, aber dem Radsport letztlich doch nicht den Rücken.
Denn Vaughters erkannte, was nun seine Verantwortung war: Er würde fortan – sei es als Teamchef oder als Kronzeuge der Anti-Doping-Behörden – „alles in meiner Macht Stehende tun, dass nie wieder ein junger Radrennfahrer vor der Entscheidung stehen wird, entweder seinen Traum aufzugeben oder seine Seele zu verkaufen“. „Neun Leben auf zwei Rädern“ lautet folgerichtig der Untertitel seiner Autobiografie „ONE- WAY TICKET“, die nun im Covadonga Verlag erscheint. Es ist ein wilder Ritt durch drei Jahrzehnte Radsportgeschichte, in denen Jonathan Vaughters bei den meisten einschneidenden Ereignissen einen Platz in der allerersten Reihe hatte.
Die Sportwelt kennt Jonathan Vaughters als leichtgewichtigen Kletterer, der 1999 den 31 Jahre alten Rekord von Charly Gaul am Mont Ventoux pulverisierte. Der zwei Jahre später mit vorwurfsvoller Miene und furchteinflößender Gesichtsschwellung in die Kameras der Weltpresse blickte, als er nach einem Wespenstich aus der Tour de France ausschied, weil die Dopingregularien eine Behandlung mit Cortison verboten.
Sie kennt ihn nun seit mehr als einer Dekade als Teammanager im Tweed-Outfit, als umtriebigen, keine Kontroverse scheuenden Mann hinter einer Mannschaft, die schon als Slipstream, Garmin und Cannondale antrat und nun EF Education First heißt. Sie kennt ihn als meinungsstarken Macher, der sich – ob nun als Präsident der Vereinigung der Profiteams AIGCP oder via Twitter – gern mit den Mächtigen des Metiers anlegt. In „One-Way Ticket“ verrät er, was ihn dann antreibt und die Messer wetzen lässt. Mit den hohen Herren vom Radsportweltverband UCI, mit dem Team Sky bzw. Ineos und immer wieder auch mit Lance Armstrong.
„Die skurrile Wahrheit ist, dass Lance im Jahr 1995 ein unerhört talentierter und sehr zorniger Radrennfahrer war, der von Dopern um seine Karriere gebracht wurde“
Die beiden Karrieren von Armstrong und Vaughters verliefen lange parallel und letztlich doch völlig konträr. Zum ersten Mal erlebt »JV« den jungen Lance, als bei einem Juniorenrennen in Utah plötzlich ein ungelenk die Pedale malträtierender Kraftprotz auftaucht, sich um taktische Finessen nicht schert und gedenkt, die gesamte Konkurrenz mit roher Power zu zermalmen: „Wer ist dieses Biest da vorne?“, fragt sich Vaughters atemlos.
Als Neoprofi in Europa trifft er dann auf einen Armstrong, der als Ex-Weltmeister nur noch hinterherfährt und sich voller Abscheu über die „Epidemie EPO“ äußert: „Die skurrile Wahrheit ist, dass Lance im Jahr 1995 ein unerhört talentierter und sehr zorniger Radrennfahrer war, der von Dopern um seine Karriere gebracht wurde“, schreibt Vaughters. Drei Jahre später sind die beiden Teamkollegen bei US Postal, und Armstrong ist der Alphawolf, der die Regeln diktiert und seine Meinung über Doping grundlegend revidiert hat. Ungeniert setzt er sich im Beisein von Jonathan Vaughters eine EPO-Spritze und raunt ihm zu: „Du bist jetzt einer von uns, JV. Willkommen im Boys’ Club – wir wissen alle voneinander und wir haben alle Dreck am Stecken, komm also nicht auf die Idee, ein Buch über diesen Scheiß zu schreiben“.
Das fehlende Puzzlestück
„Ich schätze, in mancher Hinsicht kannte mich Lance besser, als ich mich selbst kannte“, blickt Vaughters voller Lakonie auf diesen Moment zurück. Er hat nun tatsächlich ein Buch „über diesen Scheiß“ geschrieben. Und vorher hatte er noch etwas anderes getan: Er ging zur USADA und packte aus, und er überzeugte Fahrer aus seinem Team, es ihm gleichzutun. Es war das fehlende Puzzlestück, das Lance Armstrong endgültig zu Fall brachte.
Jonathan Vaughters zählt – das lässt sich nicht nur an seiner extravaganten Garderobe festmachen – nicht zu den grauen Mäusen im Profiradsport. Everybody’s Darling war »JV« nie, immer hatte er seine eigene unbequeme Meinung, seinen ganz eigenen Kopf. Schon als Kind, so bekennt er, habe er stets das Gefühl gehabt, anders zu sein – die späte Diagnose Asperger lässt ihn nun rückblickend vieles besser verstehen.
Doch Vaughters erlebt seine autistische Störung auch als Geschenk. Denn sie verleiht ihm eine unglaubliche Konzentrationsfähigkeit, die ihm seinerzeit gerade in einsamen Zeitfahren zugutekam, und sie befähigt ihn zu einer kreativen Problemlösung, mit der er sein Team – sein Lebenswerk – im Laufe der Jahre immer wieder retten konnte, wenn es vor dem Aus stand.
Auch in diese Seite seiner Persönlichkeit, in das wahre Leben und Denken eines Teamchefs im Profiradsport, liefert Vaughters in „One-Way Ticket“ viele spannende Einblicke, die Radsportfreunde in dieser Form noch nicht kennen dürften: Warum seine Truppe jahrelang am Argyle-Design festhielt? Wie er Doug Ellis dazu brachte, einen zweistelligen Millionenbetrag in ein Team noch ohne jegliche Meriten zu pumpen? Warum er als ersten Fahrer ausgerechnet einen geständigen Doper verpflichtete? Was er Dave Brailsford und dem Team Sky nie verziehen hat? Warum er den geschassten Giro-Chef Michele Acquarone für den größten Visionär im Radsport hält? Wem sein letzter Dank gilt? Das alles und viel mehr verrät Jonathan Vaughters – sehr reflektiert und doch mit großer Erzählfreude – in seiner Autobiografie.