Liebe Leser,
ich bin wirklich kein Pessimist. Doch was Radsportvereine betrifft, so habe ich meine Erfahrungen. Denn es ist immer das Gleiche: Typen der Marke Schulsportlehrer, die in flatternden Bioracer-Jerseys mit hyper-cringen Sponsorenlogos von Dorfbäckereien, Sparkassen oder Handwerksbetrieben den Ton angeben, antiquierte Trainingsweisheiten (Beine rasieren, nix essen, Kippe geht aber) und völlig aus der Zeit gefallene Sonntagskriterien. Die Webseite, wenn es denn überhaupt eine gibt, wurde das letzte Mal im Jahr 2007 aktualisiert – aber sei´s drum, dieses Internet setzt sich ja eh nicht durch. Bei Trainingsausfahrten wird aus Prinzip nicht gewartet. Wo käme man denn da hin, wenn man mit Leuten fährt, die zu „unfit“ für den Club sind? Versager! Trotzdem gebe mir an diesem Sonntagmorgen einen Ruck. Aller Miesepetrigkeit zum Trotz, schließe ich mich einer Gravel-Ausfahrt des regionalen Radsportvereins an.
Am Treffpunkt angekommen begrüßen mich die Vereinsmitglieder, von denen vier von fünf auf Mountainbikes sitzen. Außer mir ist noch ein anderer Neuling dabei, der wie er sagt, keinerlei Raderfahrung hat. In der Strava-Veranstaltung heißt es „Slow Gravel, max. 23er Schnitt“, doch bereits auf den ersten zehn Kilometern prügeln wir mit knapp 30km/h durch den Wald. Vom proklamierten Schnitt, noch „slow Gravel“ oder „Gravel“ überhaupt, will keiner mehr etwas wissen. Die Vereinsmitglieder sind eine homogene Gruppe, kennen ihren Rhythmus. Wir zwei Neuen leider nicht. Der Weg wandelt sich zum Trail. Die MTBler springen über Schlammpfützen und Wurzeln. Der Neuling und ich haben Mühe mitzuhalten. Wir fallen zurück. Ein paar der Vereinsmitglieder sind sichtlich genervt, dass sie auf uns warten müssen und treten sofort wieder in die Pedale, sobald wir keuchend zum Rest aufschließen. Keine Verschnaufpause für uns. Dann schießen wir weiter über Felder und durch Wälder. An einer Steigung können unsere Übersetzungen mit denen der MTBs nicht mithalten. Wenig später wartet auch keiner mehr auf uns. Ich komme zum Stehen, der Neuling rollt ein paar Minuten später an mich heran. Komplett erschöpft. „Ist das immer so?“, stöhnt er mir entgegen. Ich wische mir den Schlamm aus dem Gesicht; bin genervt. Schweigend rollen wir zurück in die Stadt, wo wir uns erstmal eine Cola gönnen.
Ich erkläre meinem Begleiter, dass er gerade Zeuge einer typischen Vereinsausfahrt geworden sei. Im Vorfeld hatte mich noch ein Kumpel vorgewarnt. Ihm hatte man im Sommer den Rat gegeben, er solle das nächste Mal doch „besser bei der Frauengruppe mitfahren“. Wow. Dass ein Verein derart rückwärtsgewandte Attitüde kommunizieren würde, dass hatte ich ihm damals nicht geglaubt. Jetzt tue ich es. Der Neuling schaut mich mit einer Mischung aus Verwirrung und Enttäuschung an. Er habe sich eigentlich erhofft, neue Leute kennenzulernen und ein paar Fragen zu Ausrüstung und Rad stellen zu können. So habe er sich das nicht vorgestellt. Ich beruhige ihn und biete meine Hilfe bei allen zukünftigen Fragen an. Dann fahren wir heim.
Deutschland ist das Land der Vereine. Inzwischen gibt es über 600.000 in der Republik, Tendenz steigend. Die rund 86.000 Sportvereine zählen (Stand 1. Januar 2024) insgesamt 28.764.951 Mitgliedschaften. Ein Rekord seit der ersten Bestandserhebung 1954. Möchte man meinen. Denn während sich Tennis-, Schach- und Fußballvereine einer steigenden Mitgliederzahl erfreuen, fehlt es den Radsportvereinen an Nachwuchs. Laut einer Statistik von „Zivilgesellschaft in Zahlen“ seien die Gründe hierfür vor allem auf die Digitalisierung des Vereinswesens zurückzuführen, aber auch auf die Kommunikation. Zum Beispiel, dass Ausfahrten, die als „locker“ und mit „Gravel“ tituliert sind, auch genauso sein müssten. Meine Vereinsausfahrt war ein eindrücklicher Beweis dafür, dass eine „wer nicht mithalten kann hat bei uns auch nichts verloren“-Einstellung immer noch fest im Unterbewusstsein der Radsportvereine verankert ist. Nicht jeder der gerne in einem Radsportverein sein will, ist ein Naturtalent oder hat Bock vier bis siebenmal pro Woche am Limit zu trainieren. Nicht jeder hat Lust auf Rennen oder Kriterien, will aber trotzdem in einem Verein sein, weil er sich, so wie mein Begleiter, austauschen oder neue Leute kennenlernen will. Dass viele Radsportvereine Nachwuchsprobleme haben, wundert mich nach dieser „Slow-Gravel-Ausfahrt“ hingegen nicht. Sie war demotivierend und hat am Ende gleich zwei potentielle Neumitglieder für immer vergrault.
Denn eigentlich ist es doch ganz einfach: Wenn Vereinsmitglieder bei Gruppenausfahrten nicht auf Nachzügler warten wollen, dann sollten sie keine öffentlichen Ausfahrten organisieren. Niemand wird gezwungen, mit schwächeren Fahrern fahren zu müssen. Aber Sport- und Jugendförderung muss anders aussehen. Vereinsarbeit darf nicht demotivieren, Fairness und Sportlichkeit müssen von Verband und Vereinen vorgelebt werden. Und wenn sich aus neuen, jungen Mitgliedern trotzdem noch ein vielversprechender Nachwuchs schmieden lässt, gewinnen am Ende alle. Aber nicht jeder, gleichgültig des Alters, hat Bock auf Leistungskader und Trainingscamp. Die Tour de France fahren wir nämlich alle nicht mehr.
Apropos zeitgemäß: Im November 2024 hat der Bund Deutscher Radfahrer (BDR) (jetzt „German Cycling“ – Anm. d. Red.) sein neues Logo präsentiert. Dieses erntete in den Sozialen Medien Spott und Häme. „Sieht aus, als hätte man es in Windows 98 erstellt“, „Aus der Steinzeit“, empörten sich die User. „Der neue Markenauftritt soll sich „zeitgemäß“ an „internationalen Maßstäben“ orientieren, heißt es hingegen in der Pressemitteilung. Man stehe für „modernen Radsport“. BDR-Verbandspräsident und Ex-SPD Kanzlerkandidat Rudolph Scharping (76) hierzu: „Wir müssen jünger, weiblicher und digitaler werden“. Keine weiteren Fragen.
Euer Max & Cleat
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