Macht es mehr Sinn, Anstiege im Stehen oder im Sitzen zu meistern? Eine Frage, über die sich Sportwissenschaftler und Athleten seit Jahrzehnten die Köpfe zerbrechen. Ein guter Grund, etwas tiefer in die Materie einzutauchen. Wir haben uns mit Experten darüber ausgetauscht. Die Antwort, ob nun bei Klettereien stehen, sitzen oder beides abwechselnd am effektivsten ist, könnte überraschen.

Text: Max Marquardt Foto: Max Marquardt, Tobias Reiter, Sportograf

Die Duelle zwischen Pogacar und Jonas Vingegaard bei der diesjährigen Tour de France versetzte Fans und Medien in Staunen. Das von den Medien als „Kampf der Giganten“ proklamierte Spektakel verlief am Ende weniger dramatisch als von vielen erhofft, jedoch nicht minder spektakulär.

Auf den 132.8 Kilometer der 20. Etappe von Nizza zum Col de la Couillole, in deren Verlauf die Fahrer über 4600 Höhenmetern bewältigen mussten, profitierte der Slowene von der Verfolgungsarbeit, die Remco Evenepoels Team Soudal – Quick-Step verrichtete, um eine starke Ausreißergruppe einzuholen. Im Sprintduell bezwang Pogacar schließlich Vingegaard deutlich.

Eine ganz ähnliche Spannung erzeugten seinerzeit die beiden Ausnahmekletterer Alberto Contador und Chris Froome während der Vuelta a Espana 2014.  Beide lieferten sich ein spannendes Kopf-an-Kopf Rennen auf einigen der gefürchtetsten Anstiege Spaniens. Oft auf Augenhöhe, aber selten mit der gleichen Technik. Während Contador dazu neigte aufzustehen, blieb Froome in der Regel sitzen und erhöhte seine Trittfrequenz. Beide Techniken waren effektiv, aber welche davon ist für unsereins nachahmenswert?

Alles eine Frage der Steigung?

„Es kommt auf die Steigung und Länge des Anstiegs an“, sagt der ehemalige BMC-Racing-Fahrer Marco Pinotti. Als sechsfacher italienischer Landesmeister hat der Profi schon einige Höhenmeter in den Beinen. Beim Blick in die Grundlagen der Physik wird deutlich, dass leichtere Fahrer mit einem hohen Leistungsgewicht, eher in den Bergen brillieren als ihre schwereren Gegenspieler.

Aber entspricht die Technik kleinerer Fahrer wie zum Beispiel Nairo Quintana (1,67m, 59kg) auch dieser wissenschaftlichen Theorie?

Im Jahr 2008 erforschte Ernst Hansen, Professor für Mathematik an der Universität Kopenhagen, dass es für Rennradfahrer besser ist, sitzen zu bleiben, bis die Steigung 10 Prozent erreicht. Gemäß den Forschungsergebnissen Hansens, solle man erst aus dem Sattel gehen, wenn es steiler werden sollte. Stehen sei dennoch effektiver, was die anhaltende Leistung beträfe. Aber: Fahrer, die im Stehen nach oben Pedalieren, verbrauchen circa 5 Prozent mehr Sauerstoff. 

Bei kurzen (weniger als 30 Sekunden) Vollgasfahrten konnte im Stehen eine um 25 Prozent höhere Spitzenleistung gemessen werden als im Sitzen. Also was jetzt?

Neuere Untersuchungen haben gezeigt, dass selbst bei geringeren Steigungen von etwa 4 Prozent und einer Geschwindigkeit von circa 19 km/h im Sitzen 10 Prozent weniger Sauerstoff verbraucht wird als im Stehen.

Das liegt vor allem daran, dass der Körperschwerpunkt durch den Sattel gestützt wird, wodurch wiederrum Energie gespart wird. Theorie und Praxis, dass wissen wir als Radfahrer nur zu gut, liegen oft Welten auseinander. Doch an Hansens Theorie scheint tatsächlich etwas dran zu sein.

Das kurze „aus dem Sattel gehen“ ist im Radsport üblich. Vor allem, wenn der Körper nach Varianz schreit oder dann, wenn man beim Ortsschildsprint erster werden will. Klar, im Profi-Radsport gibt es immer wieder Ausnahmen. Fahrer, die schier endlos und stehend die härtesten Pässe bezwingen. Oder umgekehrt.

Bei der Vuelta 2013 sorgte der Amerikaner Chris Horner für Schlagzeilen. Nicht nur, weil der mit seinen 41 Jahren als ältester Sieger einer Grand Tour in die Geschichte einging, sondern weil sein Kletterstil durchaus als extravagant bezeichnet werden kann.

Im Sitzen kann der „geschlossene“ Hüftwinkel die Kraftausbeute einschränken.

„Ich habe noch nie einen Fahrer gesehen, der so lange im Sattel saß und in einem großen Gang kletterte“, sagt Professor Louis Passfield von der Universität in Kent, England.

„Das Stehen hat das Potenzial, aufgrund von Unterschieden in der kinetischen Kette, beginnend mit dem Oberkörper, eine größere Leistung zu erbringen“, so der Wissenschaftler.

Im Stehen würden sich auch viele Winkel des Körpers verändern, vor allem in der Hüfte, so Passfield. „Wenn dieser Winkel geöffnet wird, aktiviert man mehr Muskeln, einschließlich der Gluten (Gesäßmuskeln – Anm. d. Red.) und der Waden. Dies sorgt für ein höheres Kraftpotenzial.“ Im Sitzen könne dieser „geschlossene“ Hüftwinkel die Kraftausbeute einschränken, so Passfield.

Und weiter: Der Bewegungsbereich der Hüfte vom Sitzen zum Stehen steige von etwa 40° auf 70°. Auch in den Knien würde sich der Bereich von etwa 30° auf 75° vergrößern. Schließlich vergrößere sich der Bewegungsbereich der Fußgelenke von 25° im Sitzen auf 40° im Stehen.

Im Stehen ist also mehr Leistung möglich, allerdings hat dies auch seinen Preis. Denn es gibt noch weitere Faktoren, die laut der Wissenschaftler eine nicht ganz unbedeutende Rolle spielen. Die Gleichung eines Idealfalls wäre es, mehr Leistung bei weniger aufgebrachter Energie zu erzeugen. Hinzu kommen natürlich auch noch äußere Einflüsse, wie Wäme, Kälte, Schlaf, Erholungszyklen und Ernährung. 

„Ein Wechsel der Position kann dem Fahrer ein Vorteil sein, um Muskelgruppen zu entlasten“.

Peter Scheffler vom Radlabor München stimmt dieser These weitgehend zu. Der studierte Sportwissenschaftler ist Laborleiter im Radlabor und verantwortet Laktattest-Diagnostik und Traininsplanung für alle Leistungs- und Altersklassen. „Prinzipiell finde ich es schwierig, die Frage, ob man stehen oder sitzen soll, an einer Marke wie 10 Prozent festzumachen“, sagt der Experte. Als grobe Orientierung sei dies aber sicherlich nicht falsch, da der Erschöpfungsgrad beim Stehen höher sei. „Beim Sitzen arbeitet verstärkt die Gesäßmuskulatur und man kann eine Belastung leichter lange halten.  Beim Stehen arbeitet hingegeben der Quadriceps (vierköpfiger Oberschenkelmuskel – Anm. d. Red), der die Kraft unseres Oberschenkelbeugers bei Weitem übertrifft.“ Laut Scheffler ist die Frage der Fahrer-Position eine individuelle, die von vielen anderen Faktoren abhängt. „Ein Wechsel der Position kann dem Fahrer ein Vorteil sein, um Muskelgruppen zu entlasten“, erklärt der Sportwissenschaftler.

Alles eine Frage des Gustos?

Wer bevorzugt sitzend klettert, trainiert genau die maximale Effizienz, der er im Sitzen beim Klettern erreichen kann. Und umgekehrt ist es beim Stehen. Wer laut Meinung der Sportphysiologen, bei Steigungen, die meiste Zeit außerhalb des Sattels fährt, wird dort auch die meisten Vorteile sehen. 

Passfield vermutet, dass sich der bevorzugte Kletterstil aus den persönlichen Erfahrungen ergibt.  Und dann wäre da noch die Frage der Trittfrequenz. Zahlreiche Studien zeigen, dass in der Ebene 80 bis 90 Umdrehungen pro Minute optimal sind, an Anstiegen etwas weniger.

So ergaben Untersuchungen bei der Tour de France 2008, dass die durchschnittliche Trittfrequenz auf dem 17,5 km langen und 1.208 m hohen Galibier bei 67 U/min lag, während auf dem 10,3 km langen und 8,3 Prozent hohen Saint-Lary-Soulan nur 64 U/min gemessen wurden. Daraus schlussfolgerten die Wissenschaftler in den Folgejahren, dass die Trittfrequenz in den Bergen nicht zu niedrig sein darf, sonst verliere man den Schwung und falle ab.

Für Profifahrer mag eine derart hohe Kadenz mit Sicherheit kein Problem sein. Auch leichte Fahrer werden im Stand weniger Probleme haben, als Schwergewichte, deren Hintern bei Anstiegen eher weniger aus dem Sattel geht. Wie man es am Ende auch dreht und wendet, welche Faktoren man hinzuzieht oder wegnimmt, eine Sache ist garantiert: Klettern tut weh, immer.