Nachdem sie auf ihren bisherigen Grevets, einer Serie von Gravel-Ausfahrten und Mikro-Abenteuern, eher Pech hatte, unternimmt die Teilnehmerin Eva Weerts einen neuen Versuch: Dieses Mal im schönen Oberbayern. 300 Kilometer und knapp 5000 Höhenmeter gilt es zu bewältigen. Wie es Eva dabei ergangen ist und warum so ein Kurztrip manchmal spannender ist, als ein langes Bikepacking-Abenteuer, lest ihr in ihrem Reisebericht.
Text & Fotos Eva Weerts
Nachdem ich beim Berliner Grevet #4 durch Polen mit vier Platten auf den ersten 280 km massiv ausgebremst worden war, und dort ohne mein auf Grevet#3 verliehenes Licht und ohne weiteres Flickzeug nicht durch die Nacht fahren wollte, dachte ich zunächst, ok, es soll nicht sein- mein erster DNF und # 4 – der Abschluss der Gravel-Serie- ist mir in dem Wertungs-Zeitfenster nicht vergönnt…
Ziemlich last minute fiel mir dann auf, dass die bayrische Grevet-Serie zeitlich etwas versetzt war und ich mich theoretisch für das Wochenende Anfang August irgendwie freischaufeln könnte, um einen mir unbekannten Fleck Deutschlands zu erkunden. Könnte!
Auch wenn es „nur“ 300 km waren, die im Süden für das Grevet #4 bewältigt sein wollten, konnte ich mir auch ohne Praxistest schon denken, dass die rund 4700 Höhenmeter für den Zeit-Bedarf noch ein Wörtchen mitzureden hätten und somit sicher war, dass ich teils auch nachts fahren würde. Eine kurze Erst-Recherche nach Übernachtungsmöglichkeiten in Hotels oder Pensionen in Orten entlang der Strecke förderte flächendeckend rote Punkte zu tage- offenbar war dieses Wochenende Anfang August das Hoch der Hochsaison, alles ausgebucht. Für einen Overnighter war ich noch nicht ausgestattet, ohne staubaren Schlafsack und Isomatte, und ob mich in den wenigen verbleibenden Tagen vor dem Start noch irgendwas aus dem Internet erreichen würde, bezweifelte ich. Aber die Idee hatte sich schon festgesetzt. Fahren wollte ich, totales Harakiri aber nicht. Was also tun?
Aldi Süd rettete mich mit einem 16,99 € „Bikepacking-“ Schlafsack , der mir auf dem Weg zur Kasse zufällig ins Auge fiel. Na geht doch. Wie war das, man muss sich nur Sachen beim Universum wünschen? Also noch ein neues Licht bestellt, das angeblich zum nächsten Tag lieferbar war, und angemeldet.
Im Wohnort meiner Eltern war Großbaustelle und das Dorf von drei Seiten abgeschnitten, nur über einen einzigen Umweg zu erreichen.
Ich vermute dass dies der Grund war, dass es die bestellte Lampe nicht zu mir schaffte, nicht am Mittwoch, nicht am Donnerstag und auch nicht am Freitag . Der Zusatz-Akku schaffte es, die Lampe selbst nicht. Nach drei vorgetäuschten Lieferversuchen und Suspense -Einlagen à la „die Lieferung ist im Auto unterwegs zu Dir, heute bis 18:00“ —hiess es am Ende plötzlich „Lieferung war nicht möglich, die Bestellung wurde zurückgesandt“. Na super! Mittlerweile war es Freitagabend nach Ladenschluss. Einen Aufbruch am nächsten Morgen konnte ich so vergessen, Beleuchtung war essenziell für meinen ersten Ausflug in alpines Gelände.
Also Planänderung- ein echter Radladen im Startort Rosenheim musste her als Startpunkt. Auch war mir beim Packen aufgefallen, das ich zwar das neue Fahrrad mit in den Süden genommen hatte, aber keine Halterung für mein Navi. Etwas Besseres als meine improvisierte Einmachgummi Ersatzkonstruktion konnte bestimmt nicht schaden…
Also war Samstag die erste Anlaufstelle in Rosenheim der Laden von Radsyndikat. Und siehe da: sie hatten alles was ich brauchte. Idealerweise konnte am neuen Navi-mount unten eine Lampe montiert werden. Prima! Meiner verliehenen Stirnlampe brauchte ich für heute nicht mehr nachtrauern. Vor Ort fiel mir siedend heiss ein, dass ich ja auch meine alten cleats noch immer an den Schuhen hatte und mir ein Ausflug auf Island kurz zuvor gezeigt hatte, dass denen nicht mehr zu trauen war. In alpinen Gelände nicht aus den Pedalen zu können, wäre nicht auszudenken. Mit meinem Minitool wäre ich bei den ollen Schrauben der uralt Dinger, die ich noch an den Schuhen hatte, gescheitert – aber auch bei der Montage neuer Cleats wurde mir bei Radsyndikat super ausgeholfen!
Über alledem war es Mittag geworden. Aber nun konnte es losgehen!
Am Wasser entlang rollte es schön. Es war nicht heiss, und ein konstanter Nieselregen war mein Begleiter seit dem Start. Nach den Monaten der Sommerhitze in der heimatlichen Berlin/Brandenburger Sandsteppe war das eine willkommene Abwechslung- huch, es gibt ihn noch, den leichten Landregen. Ok, wie schnell man vergisst- von November bis Februar hatten wir vier bis fünf Tage die Woche Nieselregen- aber die quasi niederschlagsfreien Monate im Anschluss ließen das schnell vergessen. Über solcherlei Gedanken rollten sich die ersten Höhenmeter zügig weg. Nur ein Stückchen grober steiniger Anstieg zu einer Alm liess mich fluchen. Oben war alles nebelverhangen, eine Almwirtschaft hatte angerichtet zum Empfang von Gästen….tja, wäre bei anderem Wetter bestimmt ein schöner Berg mit Alpenpanorama gewesen…. Jedenfalls kam mir eine ganze Kolonne etwas bedröppelter (Hochzeits-) Fahrzeuge entgegen. Es sollten die fast einzigen Autos bleiben, die ich in den nächsten 24 Stunden zu Gesicht bekommen würde. Ein paar Hügel weiter in einem Dorf sah ich plötzlich aus dem Augenwinkel eine Bäckerei, die geöffnet war. Eigentlich hatte ich so kurz nach dem Start noch keinen Stop geplant, wollte bis zur Seiser Alm -also die ersten knapp 60 km durchfahren- aber es war zu verlockend. Pflaumenkuchen mit Sahne und ein Kakao waren eine super Stärkung- bei km 27 sozusagen zum Auftakt meines 300 Bergkilometer Abenteuers. Mit vollem Bauch ging es weiter hinan, während neben mir Mountainbiker ihre Abfahrten in einem Bikepark genossen. Nächstes Ziel war, eine Holzkuh zu melken. Ich habe nur einmal im Leben eine echte Kuh gemolken- so leicht wie bei dieser hölzernen Attrappe ging mir das damals nicht von der Hand. Schwieriger erwies sich das obligatorische Foto zu machen, zumal sich der Fotorahmen hartnäckig vor mir versteckte (Spoiler: erst in Berlin sollte er sich wieder aus den hintersten Ritzen des Trinkrucksacks hervorwagen). Nun ja, Fotos sind eh überbewertet. Vor dem nächsten Checkpoint lag dann die Seiser Alm. Obwohl ich in dieser Ecke Deutschlands noch nie gewesen war, hatte ich diesen Namen schon gehört… aber wo und wann? ich hatte mich für eine Alm auf deutlich mehr Anstieg eingestellt und war erstaunt, als ich plötzlich schon da war.
Erfreulicherweise hatten sich die Wolken gehoben und ich konnte zum ersten Mal den Chiemsee sehen. Mittlerweile war es später Nachmittag. Ich beschloss, ein frühes Abendessen zu essen (sicher ist sicher): Eine Flädlesuppe, und zwei Käsebrote.waren meine Wahl, wovon ich ein Brot mitnahm. Bereits wenige Km weiter gab es den nächsten Checkpoint der Route zu entdecken: Ein alter Torfbahnhof. Ich hatte das Gelände ausserhalb der Öffnungszeiten für mich alleine.
Es hatte aufgehört zu regnen, schon während meines Abendessens., und ich rollte weiter, während es abendlich wurde. Nochmal ging es einen Hang hinauf, oben patroullierten ein Wachfahrzeug, ein Gefängnis war in der Nähe. Aber kein Flüchtender versteckte sich im Unterholz oder sprintete über die saftigen Kuhweiden.
Richtig idyllisch wurde es im abendlichen Flusstal, während sich die Dämmerung über das Land legte. In einem Ort war Sommerfest und eine Blaskappelle spielte, Bayern wie im Bilderbuch. Ich genoss die Stimmung für ein paar Minuten, ehe ich in der einbrechenden Dunkelheit das Dorf hinter mir liess.
Perfektes Timing, um den Schmuggelpfad komplett für mich alleine zu haben. Mein morgens gekauftes Licht machte einen tollen Job, während der Weg zunehmend enger und felsiger wurde. Im Licht meiner Lupine fand ich auch den hike a bike Anstieg. Über dem rauschenden Fluss im Dunkeln auf dem engen Pfad zwischen den Ländern mit dem Rad auf der Schulter herumzutrapsen liess wahre Schmuggelstimmung aufkommen. Eine Überraschung erwartete mich, als ein Grenzschild zwischen den Felsen vor mir auftauchte: Österreich hat limitierte Öffnungszeiten, wer hätte das gedacht! Im strengem Ton wurde gemahnt, dass der Grenzübertritt nach 21:00 Uhr nicht gestattet sei. Uupps… Aber Nomen ist Omen, ich war ja nicht auf dem Pfad der gesetzestreuen Bürger unterwegs, sondern auf dem Schmuggelstieg….
Ich nahm also anderthalb akademische Verspätungs-Viertelstunden in Anspruch, um meinen Weg fortsetzen zu können. Mein mega Lichtkegel reichte wahrscheinlich eh durch ganz Österreich bis zur Italienischen Grenze, sehr konspirativ war ich nicht unterwegs.
Trotzdem erreichte ich unbehelligt von jeglicher Grenzwache den nächsten Ort.
Jenseits der Hauptstrasse ging es wieder in den Wald, auf einen Forstweg, der stieg und stieg und stieg. Wieder einmal freute ich mich an der 50 er Pizzakassette die auf meinem neuer Rad montiert gewesen war und die ich eigentlich sofort hatte tauschen wollen („brauche ich nie!“) -ein Vorhaben, dessen schnelle Umsetzung bislang an den Lieferketten gescheitert war. Zum Glück! Jetzt schaltetet ich hemmungslos nach links und linkser und freute mich, dass da immer noch ein Gang mehr war. So bummelte ich durch die Nacht, während neben mir im Tal irgendwo wieder Wasser rauschte. Als Konsequenz der ganzen Schalterei war ich recht gemächlich unterwegs, aber noch garnicht müde. Da der Track mit knapp 4700 Höhenmeter einiges zu klettern aufbot, wollte ich noch ein bis zwei weitere Anstiege hinter mich bringen, ehe ich mir was zum Schlafen suchte. Verpflegung hatte ich genug. Schon ging es wieder abwärts, bald war ich auf einer Alm. Plötzlich war der Weg versperrt mit einem stattlichen Holzgatter, dahinter ein blumengeschmückter Hof in nächtlicher Stille.
Ok, die wollen wohl nachts ihre Ruhe haben- war meine Schlussfolgerung nach etwas zaghaften und nutzlosen Öffnungsversuchen. Ich war durch meinen Aufbruch erst am frühen Nachmittag jetzt immer noch keine 100km vom Start entfernt und wollte ja noch weiter. Andererseits hatte ich die letzten Kilometer schon darüber nachgedacht, wie schade es wäre die ganzen alpinen Landschaften jetzt im Dunkeln wegzumetern. Schliesslich war ich wirklich noch nie hiergewesen.
Also nahm ich den eigentlich unfreiwilligen Stop als sprichwörtlichen Wink mit dem Zaunpfahl und sah mich nach einer Übernachtungsmöglichkeit um.
Etwa 100 m zuvor war ich an einem recht neu gezimmerten Jägerstand vorbeigefahren, der mit einer kleinen Treppe in den Hang gebaut war. Ich drehte um und nahm ihn in Augenschein. Offenbar war er zum social hunting konzipiert, jedenfalls war er etwa 1,60 lang und so brauchte ich nur die Füsse zur Tür hinaustrecken oder mich wahlweise etwas einkuscheln und konnte mich auf dem Boden einrichten.Perfekt.
Mein spontan versammeltes Overnighter Equipment bestand aus jenem 17 Euro Discounter Schlafsack, als Isomatte hatte ich den Alu Sonnenschutz für die Windschutzscheibe meines Autos mitgenommen, die seit Jahren ein unbeachtetes Dasein in der Kofferraumklappe geführt hatte, und als Komfort-Booster hatte ich zusätzlich ein kleines Quadrat Noppenfolie eingesteckt, um den Hüftbereich vor nächtlichen Blessuren zu schützen. Beides gewichtsmässig unschlagbar leicht;) Der flächendeckende Regen hatte sich etwas verzogen, aber noch tropfte es allerorten und hin und wieder querte eine verspätete Wolke und tröpfelte herum. Das schöne Holzdach des Unterstandes kam da wie gerufen, denn ein Zelt hatte ich nicht. Offenbar war es auch den Mücken noch zu nass, jedenfalls ich hörte keine enzige herumsurren und verzichtete darauf, mein Moskitonetz im Unterstand zu verspannen. So war ich flugs eingerichtet, und hatte gerade die Vorräte auf die Bank gelegt, als mich ein anhaltendes, empörtes Fiepsen aus dem nahen Gebüsch auf die Anwesenheit von Tieren aufmerksam machte. Vielleicht hatte ich ihm oder ihnen seinen Schlafplatz streitig gemacht- unter dem niedrigen Stand war auch eine trockene „Höhle“.
Gerade da zog mir der Duft des Landjägers in die Nase, den ich in der ersten Bäckerei erstanden hatte und seitdem durch die Gegend kutschierte. Auf die an sich naheliegende Idee, ihn einfach zu essen, kam ich irgendwie nicht, stattdessen spukten plötzlich alle möglichen anderen Gedanken in meinem Kopf herum: war nicht irgendwo genau hier in dieser Gegend vor etwa 10 Tagen ein Bär gesehen worden? Aßen Bären Wurst? Die bequeme Treppe des niedrigen Unterstandes würde ihn bestimmt nicht daran hindern. In Alaska soll man ja seine Vorräte weit entfernt vom Lagerplatz in Bäume hängen. Also nochmal Schuhe und Jacke an und loswandern? Andererseits erschien mir ein Aufeinandertreffen des wahrscheinlich einzigen open air- Landjäger-Würstchens des Landkreises und des einzigen Bären Deutschlands statistisch gesehen als zu gering, um mich deshalb nochmal aus dem Schlafsack zu schälen. Ich widmetet den Regenschutz des Handys- ein Zipp Beutel- als Geruchsschutz für die Wurst um und verbuddelte alles Essbare unter der verschwitzen Regenjacke. Das musste reichen. Die Kühe oder Rinder auf der nahen Alm würden mich schon wachbimmeln, falls hier wirklich ein Bär herumtapsen sollte.
Als ein paar Stunden später mein Wecker läutete, fand ich meine Bleibe noch viel zu gemütlich um noch im Dunklen aufzustehen bzw. stellte mit dem Gedanken: „das Tor ist bestimmt eh noch zu…“ den Wecker ab und schlief einfach weiter. Erst gegen halb acht wachte ich wieder auf. Jetzt aber los! Zusammengepackt war schnell. Leider hatte mein Wahoo nicht so gut geschlafen wie ich, und blieb virtuell auf der Stelle stehen, während ich losfuhr. Auch zu einem einfachen Neustart liess er sich nicht überreden, es musste ein kompletter Re Boot sein. Nun denn, eine Übung in Entschleunigung. Der Weg war immer noch „versperrt“, was sich jetzt bei Tageslicht betrachtet allerdings als einfaches Weidegatter entpuppte. Und auch der Kettenverschluss war nicht diablolisch verknotet, wie es mir in der Nacht erschienen war, sondern simpel ums Eck eingehakt. Nun denn. Ähem, räusper.
Abwärts ging es. Unten am Orteingang war auch eine Schutzhütte am Spielplatz, aber ich fand meinen improvisierten Schlafplatz schöner. Ein paar Meter singletrail am Waldrand entlang später („Vernünftige fahren hier nicht mit dem Rad- allen anderen ist es verboten“) fand sich auch der Eingang zum Trimm Dich Pfad, dem nächsten Checkpoint. Ein wenig stretching kam jetzt gerade recht, auf die Selfies die zur Aufgabe gehörten, hätte ich allerdings verzichten können.
Ich kam an einem Hotel vorbei dessen Parkplatz sehr prall gefüllt war. Es reizte mich jedoch nichts an der Vorstellung, da jetzt hineinzugehen und mich unter das Buffetvolk zu mischen. Also schnell weiter wieder die Berge hoch. Nicht viel später gab es wieder Weidegatter. Aber mich hatte schon der Almwirt entdeckt und noch ehe ich am Gatter war, hatte er es schon für mich geöffnet. Nach ein paar freundlichen Worten über das Wohin und Woher und das Wetter ging es weiter hinan. Nicht lange und es waren auch erste morgendliche Mountainbiker auf den breiten Fahrwegen unterwegs. Fast alle ohne Motor.
An einer der nächsten Almen stand der Hüttenwirt schon in der Tür, ein erster Gast war schon eingetroffen. Ich gesellte mich dazu. Kaiserschmarrn zum Frühstück, what else?
Gut gestärkt ging es weiter, runter und hoch, die Wege füllten sich mit immer mehr Ausflüglern und Mountainbikern. An jeder Ecke standen zahlreiche Wegweiser. Ruhpolding war ausgeschildert und schien nicht fern, aber auf meiner Route war es erst für den Nachmittag vorgesehen. Erstmal ging es weiter gen Bad Reichenhall. Dort stand am Hang eine kleine Kirche, ich fuhr hoch um Wasser auf dem Friedhof nachzufüllen. Einige „Zipfel“ des Höhenprofils hatte ich mittlerweile erklommen, aber zwei grosse Anstiege warteten noch.
Aber zunächst ging es in der Nähe der Autobahn und in Sichtweite der Berge auf schönen Trails und Gravelwegen entlang. Überhaupt hatte ich den ganzen Tag schon die Qualität der Wege bewundert, grösstenteils 1A Sahnegravel auf Forstwegen. Andere Gravelbikes hatte ich auf der gesamten Strecke- ausser ganz unmittelbar in Rosenheim- nicht gesehen, ich war hier eindeutig in MTB Territorium unterwegs.
Schon bald bog der Weg wieder in die Berge. Am Wasser entlang ging es wieder hoch, hoch und hoch. Wobei ich die Anstiege am Wasser entlang mag, wie ich an diesem Tag ausführlich herausfinden konnte. Mittlerweile war es sonntägliche Ausflugszeit und je näher ich dem checkpoint am Bergsee kam, umso mehr wandernde Gruppen und MTBs waren unterwegs.
Die Wege waren nicht nur in alle Richtungen bunt beschildert, sondern oft noch zusätzlich mit Erlebnis- oder Infostationen versehen. Es war aber nie rummelig oder überfüllt Aber halt Wochenende plus Hochsaison im Kerntouristikgebiet.
Ich war mit meiner Schaltung, die ich weiterhin nutzte wie ich lustig war, wirklich im Schneckenmodus unterwegs. 300 km sind lang, wenn mensch sich mit einstelligen Km/h Zahlen den Berg hoch bewegt. Besonders schön wenn dann die Anzeige „fahren automatisch pausiert“ erscheint. Berg runter war auch so eine Sache- meine Vor-Erfahrung bestand ja ungefähr in fünfmal den Müggelberg hinabrollen – den Wanderweg, nicht den DH-Trail- kein Wunder also, dass meine downhillskills zu wünschen übrig liessen und mein Wohlfühltempo trotz der breiten Wege hier oft zwischen höchstens 10-12 km/h lag.
Dem widmete ich lange keine Aufmerksamkeit., Dass ich allerdings mehr als 24 Stunden nach meinem Aufbruch erst auf gut der Hälfte der Strecke war, gab mir zu denken. Oh, gab es da nicht eine cut-off Zeit? 40 Stunden erschienen auf einmal recht kurz…
Frisch gestärkt und mit vollem Bauch ging es weiter zum letzten grossen Anstieg.
Wieder ging es zunächst am Wasser entlang, aber bald schwang sich der Weg nach oben und verlief über rauschende Wasserfälle über einen Hang. Zauberhafte Abendstimmung breitete sich aus. An einem sonnigen Almen-Fleckchen waren ein paar Berghütten, die Ferienbewohner saßen vor der Hütte, Kinder spielten- ach, Sommerferien!- ein wirklich idyllischer Ort war das. Der Weg führte weiter hinan, schliesslich kam eine Hoch-Alm, sie wirkte auf den ersten Blick jedoch nicht bewohnt. Auf den Bergen oben ist ja oben manchmal eine Abendstimmung, die einem auch das Gefühl geben kann: husch husch, Menschlein, Du warst zu Besuch, aber jetzt wieder runter in deine Gefilde, hier ist nicht dein Terrain. Diese Art Abendstunde war das. Hier oben sollte auch eine Schutzhütte sein, aber ich weiss nicht ob mein Discount Schlafsack den nächtlichen Bergtemperaturen hier oben standgehalten hätte, wenn ich in meinem hypothetischen Superplan Szenario- ein früher Aufbruch, und 200 km am ersten Tag- hier oben zur ersten Übernachtung gelandet wäre.
Nein es war schon alles super so, wie es gewesen war. Ich hatte jetzt den Berg für mich alleine. Ein paar späte Sonnenstahlen blinzelten tief zwischen Wolken hervor die Rinder lagerten und kauten. Auf dem ganzen Anstieg hatte ich niemand mehr auf den Wegen gesehen. Weiter oben am Berg in einer Rinne zwischen den Felsen krachte und knackste und tapste es. Ein Rind war da oben nicht, und seit wann machen Gämsen so einen ungalanten schwerfälligen Krach? Schon wieder kein guter Zeitpunkt um endlich mal diese Wurst zu essen……Weiter ging es. Nach Norden raus war der Weg dem Berg abgetrotzt, erst steile Kurven nach unten, dann in den Felshang gesprengt—alpines Gelände. Was war ich froh dass ich meinem Equipment völlig vertrauen konnte. Ich bremste mich hinunter. Und bremste und bremste. Wasser rauschte bald wieder unter mir, in munteren Kaskaden und Wasserfällen. Apropos bremsen: von dem Gedanken, dass Bremsen ja auch heiß laufen könnten, zum Gedanken, dass meine Bremsen sehr konkret und ohne Konjunktiv bestimmt schon jetzt richtig heiß gelaufen sind, war es nicht weit. Ich hielt an und noch ehe mein Gehirn einen Stopimpuls dazwischen schicken konnte, war mein Finger schon an der Bremsscheibe, um meine Theorie praktisch zu überprüfen. Autsch!!! Schade, dass der Fluss gerade sehr weit unter mir war. Was nun tun mit den heissen Scheiben? Ich stieg ab und schob. Um meinen Schnitt oder ähnliches musste ich mir bei diesem Ausflug sowieso keine Gedanken mehr machen. Ausser in dem Sinne, dass es ein Ziel in Zeit X zu erreichen gab… Aber das musste später das Flachland richten. Nach einem Produkttest im Langzeitdauerbremsen war mir jedenfalls nicht zumute. Erst sobald der Weg etwas weniger steil abfiel, stieg ich wieder auf. Der Fahrweg führte einfach weiter am Wasser entlang, das zunehmend näher kam und bald auch nicht mehr nur aus einer Kette von Wasserfällen bestand, sondern zu einem Bergfluss anschwoll. ch sauste talabwärts.
Ein einziger letzter Wanderer war noch auf dem Weg. Bald war mir auch klar, warum das Tal so leer war: Schilder kündigten eine Sperrung der Straße ab 20:00 Uhr an. Das war in gut 20 Minuten.
Wieder perfektes Timing- die Sperren waren bereitgestellt, aber noch nicht im Weg. Aber kein einziges Auto mehr unterwegs, auch die ganzen asphaltierten Kilometer weiter unten nicht. Herrliches Rollen! Und endlich bewegte sich auch der Entfernungstacho. Eine grandiose Abfahrt! Exklusiver Soloritt von Talanfang bis zum Talausgang. Unten kamen Häuser- am Wasser entlang ging es aus den Bergen raus in die Weite, wo der Abend noch garnicht so fortgeschritten schien wie oben auf dem Berg.
Eine letzte Aufgabe hielt das Roadbook noch für mich bereit: einen Sonnenauf- oder Untergang zu fotografieren. Nachdem es gestern geregnet hatte und auch am Morgen alles im Nebel lag, war der Sonnenuntergang meine letzte Chance, diese Aufgabe zu lösen. Aber gerade war von der Sonne wieder nichts zu sehen- ein heller Streifen am Horizont kündete jedoch von der Möglichkeit, dass sie nochmal kurz zu sehen sein könnte. Aber wer weiss, in welchen Gestrüpp ich dann gerade stecken würde? Apropos Gestrüpp: mein weg gen Chiemsee nach Westen hatte mich in ein Schilffeld geführt. Hätte ich nicht den Navigationspfeil vor der Nase gehabt, wäre ich in den mannshohen Halmenmeer verschluckt und verschwunden gewesen und würde wohl noch heute als Moorgeist mein Unwesen dort treiben. So trat ich einfach weiter in die Pedale, im Vertrauen darauf, das der unsichtbare Untergrund fest bleiben würde. An zwei Stellen gab es tatsächlich Schlammlöcher, aber ansonsten kam ich mit meiner „blind weitertreten“- Strategie durch das kilometerlange Feld gut voran.
Ich war aber froh, diesen Streckenabschnitt nicht im Dunkel bewältigen zu müssen. Weiter ging es auf einem Damm. Auf Vorrat machte ich vor dem nächsten Wald schon ein Foto von der noch nicht zu sehenden Sonne- die Absicht zählt. Im nächsten Ort zeigten sich tatsächlich Sonnenstrahlen, aber ich musste aus den Häusern heraus, um sie aufs Foto zu kriegen, so tief stand sie schon.
Da blinzelte die Wasserfläche vor mir – ich war am Chiemsee angekommen!
Ein lauer Sommerabend, und jetzt hatte die Sonne ihren Auftritt, hinter dem See stilecht unterzugehen, mit schaukelnden Booten und Schwänen davor.
Gut 220 km durch die Berge und auf die Minute genau passend ankommen? Bitte sehr. Sogar meine Bremspanik-bergab-wander-Einlage machte jetzt Sinn- nur 15 min früher an der gleichen Stelle und ich wäre ohne Sonnenstrahlen weitergefahren…manchmal kann die Summe dutzender spontaner Entscheidungen es im Ergebnis und Erlebnis durchaus mit akkurater Planung und diszipliniertem Ziel-Pacing aufnehmen
Eine Pizzeria am Seeufer sah verlockend aus. Wäre hier und jetzt die Tour zu Ende gegangen, wäre es mir auch recht gewesen. Aber es lagen noch 80 km vor mir. Also weiter. Hier im Süden kommt die Dämmerung schnell und ist auch merklich kürzer als rund um Berlin. Aber die weißen Gravel-Wege waren breit und leuchteten. Der Abend war mild. Bald ging der Weg wieder nahe am Seeufer entlang. Flipflop-Sommerstimmung, flanierende Pärchen, Lachen vom Ufer her, der Mond hatte die Sonne über dem See abgelöst, mit Wolkenzipfel, wie sich das gehört.
Ein Campingplatz tauchte auf und ich besuchte nochmal eine Toilette, in der freien Natur hätten die Mückenschwärme sich sehr auf mich gefreut. Irgendwo hinter und unter dem Schlafsack war auch mein Mückenspray, aber anzuhalten um es rauszuholen hätte keinen unzerstochenen Zentimeter meiner Haut mehr übriggelassen. Fahrtwind musste her.
Da der Weg immer wieder durch bewohnte Gegenden oder in zu ahnender Nähe von einer Straße verlief, war ich viel beschäftigt, meine Lampen zu regeln- nur das STVO Licht oder doch die neue Lupine, und in welcher Stufe am besten? Diese Challenge sollte mich die nächsten Stunden begleiten, da die Feldwege oft auch durch die Bauernhöfe führten und ich den Leuten bei zunehmend vorrückender Stunde nicht in Fernlichtstärke in die Schlafzimmer leuchten wollte. Jetzt wurde mir klar wozu es diese Fernbedienung für den Lenker gab, die ich nicht hatte… Mittlerweile hatte ich den See verlassen und es gab schöne Trails im Wald. Auch hier mit zahlreichen und ausführlichen Schildern. Tagsüber bestimmt ein beliebtes Ausflugsgebiet, jetzt hatte ich es komplett für mich alleine. Mal war ein Hang direkt neben mir- was potentiell auf eine Aussicht schliessen ließ- dann kam ein Holzsteg übers Wasser. Das war alles sehr kurzweilig und so purzelten die Kilometer dahin. In einem Ort war in einer erleuchteten Eisdiele noch jemand am putzen. Obwohl ich kurz dachte, ach, die letzten paar Kilometer, spar dir das Gewicht, füllte ich dort meine Flaschen nochmal voll. Eher aus Gewohnheit, aber das sollte mich noch retten. Es war im Ort schon alles geschlossen, aber wozu hatte ich Proviant umhergefahren. Zeit, die Taschen leer zu essen. Es fand sich ein Riegel, ein paar mitgenommene Stückchen des Frühstücks Kaiserschmarns, ein halbes Käsebrot von der Seiseralm, und ja, der Landjäger. Gut 250 km nachdem ich ihn – warum auch immer- gekauft hatte, aß ich ihn nun. Ausserdem fuhr ich auch diesmal wieder irgendwelche Gels umher, eine Nahrungsgattung, vor der ich Respekt habe, nachdem einige meiner vergangenen Verzehr-Versuche in Klebemassaker gemündet waren. Jetzt „verordnete“ ich mir ein Gel mit dem Gedanken, irgendwann läuft es eh ab, und jetzt habe ich gerade genug Wasser übrig um gegebenenfalls Hände und Lenker zu waschen. Nun, immerhin dieses Gel war brav.
So gestärkt brach ich auf. Die ganze Strecke bislang hatte sich, was die Untergründe betrifft, von ihrer besten Seite gezeigt. Auf den letzten 20 km waren schon hier und da ein paar rumpelerige Einsprengsel aufgetaucht, aber in homöopathischer Dosis. Die meisten der 4700 Höhenmeter sollten schon hinter mir liegen, jedoch wusste ich, das kurz vor dem Ziel es noch ein paar, auch höherprozentige, Wellen gab. Es war schon bald Mitternacht und ich freute mich mittlerweile auf das Ziel. In einer Stunde sollte ich da sein…dachte ich.
Nach der Pause waren die Beine erst mal müde und beschwerten sich über das Gelände, dass bald wieder ein paar knackige Anstiege bereithielt. Aber plötzlich bei Hügel zwei war das Gel in den Beinen angekommen und machte seinen Job- eine frappierende Leichtigkeit. Aha, dafür waren diese Dinger erfunden. Also die Energie kam gerade recht.
Denn es sollte noch einiges auf mich warten. In einem Waldstück führte der Track auf Wege, die in einem Nachtod-Zombiemodus dahinvegetierten, tiefe Schwemmrillen, ausgewaschenes Geröll, Stöcke — und offenbar legte der Waldbesitzer hier, im Gegensatz zu den fleißigen Forstverwaltungen in den Bergen, auch keinerlei Wert darauf, „seinen“ Wald als Bewegungsraum für andere Menschen zur Verfügung zu stellen, im Gegenteil, offensichtlich war ihm sehr daran gelegen, alle zu vergraulen. Solange er einmal im Jahr mit dem Harvester noch durch die Schneise passte, war die Funktion des „Weges“ als bloßer Statthalter einer Vegetationslücke erfüllt. Oberflächenzustand war da egal. Hier spazierte bestimmt niemand, hier wurde niemals ein Hund ausgeführt. Wer hier verunglückt, kann monatelang unentdeckt herumliegen, ehe seine Reste gefunden werden. Ja, ich hatte viel Zeit über allerlei Unfug zu sinnieren, während ich in der Dunkelheit im Wald die Strecke bezwang. Der Weg zum Olymp führte steil hinan durch ausgespülte Schuttkare, halb schon zum Bach mutiert, mit zerrissenen, herausstakenden Beton-Querrillenresten gespickt. Und das mitten im ordentlichen Bayern!
Aber auch diese Hügel des Grauens hatten ein Ende. Oben gab es bei Tageslicht bestimmt Aussicht, aber ich musste ihn mir vorstellen. Noch war von Rosenheim nichts zu sehen.
Weiter ging es, wieder hinab. Herbstliche Kühle streifte jetzt meine Haut, in einer Senke fuhr ich unter einem Nebelstreif hindurch, ein Haus am Wegesrand rauchte aus dem Schornstein, es roch nach Holzfeuer. Wo war der laue Flip-Flop, Tanktop ,Grillenzirp-Sommerabend vom Seeufer geblieben?
Hier, kaum 30 km Luftlinie entfernt, war plötzlich Wollwestenklima. Nein, nonstop bis zum Herbst wollte ich wirklich nicht weiterfahren. Alles zu seiner Zeit, für heute war es gut. Noch hatten parkende Fahrzeuge kein RO auf dem Kennzeichen. Aber dann ging es an dichteren Häusern vorbei, in einer Fabrik wurde auch nachts gearbeitet. Eine Straßensperrung wollte mir den Zieleinlauf nach Rosenheim verwehren. Aber nach 36 Stunden unterwegs ließ ich mich nicht mehr aufhalten. Noch über eine Brücke und das Ortsschild von Rosenheim tauchte auf. Mein Licht verlosch auf der Stadtgrenze. Was für ein Timing schon wieder!
Ich war jetzt im Reich der Straßenbeleuchtung und hatte noch die Backup STVO-Lampe — Für den Uferweg und die letzten Meter bis zum Bahnhof reichte das völlig. Am Uferweg sah ich einen Gravelreisenden, der sich auf einer Bank schlafen gelegt hatte.
Und dann war das Ziel erreicht!
Unglaublich, wie viele Erlebnisse in 300 km passen. Was für ein Wochenende! Mein erster Overnighter. Und wieder ein tolles Grevet.
Danke an das Grevet-Orga-Team und die Scouts dieser tollen Strecke!
PS: wo waren eigentlich diese Mammuts?
Mehr Infos zur Grevet-Serie: Offizielle Webseite